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Nils Hausmann: Hochmittelalterliche Buchkästen. Gebrauch – Handhabung – Umgang

Buchkasten, 10. Jh., Kupfer, vergoldet, Bergkristall; https://collections.vam.ac.uk/item/ O109950/gospel-case-unknown/ © Victoria and Albert Museum, London.

Handelt es sich bei Prachteinbänden um einen Klassiker der Kunstgeschichte des Mittelalters, so liegt für die verwandte Gattung der Buchkästen bislang keine umfassende Darstellung vor. Beide Objektgattungen sind anhand der Verbindung mit der innenliegenden Handschrift voneinander zu unterscheiden: Ein Einband ist fest mit ihr verbunden, in einen Buchkasten kann diese hingegen, wie in eine Kassette, eingelegt und aus diesem entnommen werden.

Die erhaltenen wie auch die in Schriftquellen nachweisbaren Buchkästen (capsae, thecae, caveae oder scrinia) stammen sämtlich aus der Zeit vor dem 12. Jahrhundert. Es scheint, als seien von da an Einbände bevorzugt worden. Wie kam es zu diesem Konventionswandel? Im Hochmittelalter wandelte sich die Bedeutung des Evangeliars. Sprachlich schlug sich dies in der im 11. Jahrhundert neu auftretenden Bezeichnung des Evangeliars als textus evangelii nieder (Thomas Lentes). Das Dissertationsprojekt verfolgt die Frage, ob neben dem zeitlichen auch ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen der gegenüber Buchkästen reicheren Überlieferung von Einbänden seit dem 12. Jahrhundert und diesem Bedeutungswandel hergestellt werden kann.

Nach jetzigem Arbeitsstand kann für 14 hochmittelalterliche Objekte eine Verwendung als Buchkasten als gesichert gelten. Nach Ausweis frühmittelalterlicher Schatzverzeichnisse dienten Buchkästen zur Aufbewahrung von Evangelienhandschriften. Die vom Einband sich unterscheidende Handhabung des Buchkastens bestimmte also maßgeblich die Wahrnehmung des symbolisch hoch bedeutsamen Evangeliars während der Messfeier. Hieraus ergibt sich, dass die Objekte nicht losgelöst von der Perspektive der Menschen betrachtet werden können, die sie gebrauchten und mit ihnen umgingen. Wie beeinflussten sich Wahrnehmung, Gebrauch und Bedeutung gegenseitig? Welche Umgangsweisen legte ein Buchkasten im Unterschied zu einem Prachteinband nahe? Können diese Unterschiede einen Grund für die Bevorzugung von Einbänden ab dem 12. Jahrhundert dargestellt haben? Weshalb blieben die genannten Buchkästen trotzdem erhalten?

Zur Beantwortung dieser Fragen ist zunächst der zeitgenössische Gebrauch des Evangeliars in der Messfeier, aber auch in weiteren Ritualen wie Herrscherempfängen oder Prozessionen, zu klären. Hierfür werden liturgische Verlaufsordnungen untersucht. Dieser Arbeitsschritt bildet die Grundlage für eine Zusammenschau von Schriftquellen und überlieferten Objekten: Wie passt die sich voneinander unterscheidende Handhabung von Buchkästen und Einbänden zu den geschilderten Gebrauchsweisen? Wie wirkte sich diese wiederum auf Bedeutung und Wahrnehmung der Objekte aus? Wurden sie durch Umarbeitungen ihrer gewandelten Bedeutung angepasst? Welche ästhetischen Einbußen war man hierbei bereit in Kauf zu nehmen?