PD Dr. Julia Bruch: Konventionalisierte Praktiken des Aufschreibens
Eine Praktik wird nach der auf Schatzki aufbauenden Definition von Reckwitz verstanden als „eine sozial geregelte, typisierte, routinierte Form des körperlichen Verhaltens (einschließlich des zeichenverwendenden Verhaltens) und umfasst darin spezifische Formen des Wissens, des know how, des Interpretierens, der Motivation und der Emotion.“ (Reckwitz 2020, S. 49). Kombinieren lässt sich dieses soziologische Verständnis von gesellschaftlichen Handlungsmustern mit dem Verständnis von Konventionen nach Marmor als habitualisierte, nicht institutionalisierte Gewohnheiten und Regeln, die innerhalb einer sozialen Gruppe erwartbare Praktiken konstituieren. Die Analyse sozialer Praktiken in ihrer konkreten Form von konventionalisierten Handlungsmustern bietet gleichwohl den Vorteil, übersubjektiv soziale Gesellschaften zu beschreiben, denn eine Handlung kann erst als Praktik eingestuft werden, wenn sie sich musterhaft wiederholt, stets reproduziert wird. Dadurch werden sie nun auch für die Forschung greifbar. Die sich wiederholenden Praktiken können in einem Forschungsfeld identifiziert und die dahinterstehenden Konventionen fassbar gemacht werden. Praktiken des Schreibens können als Ausdrucksformen repetitiven, unbewusst regelgeleiteten Verhaltens angesehen werden und sind für sich genommen bereits prozesshaft.
Im Gegensatz zu aktuelle Fragestellungen der Manuskriptkulturen und Textkulturen verlagert sich das Interesse weg von den Dingen (Manuskripten und weiteren Textträgern) und Texten hin zu den handelnden Subjekten (ANT), dem Akt des Schreibens, der praktischen Tätigkeit und den sozialen Mechanismen, die hinter den Handlungen stehen. Dabei findet die Forschung zu den Manuskripten zwar Verwendung, aber der Fluchtpunkt ist ein anderer und der kulturwissenschaftliche Ansatz (material turn), der hinter Untersuchungen zur Manuskript- und Textkulturen steht, wird um sozialwissenschaftliche Komponenten erweitert.
In meinem aktuellen Projekt untersuche ich klösterliche und adlige, städtische und kaufmännische Rechnungsbücher im Vergleich. Rechnungsbücher sind auf deutschsprachigem Gebiet seit dem 13. Jahrhundert überliefert. Sie werden nach ihrem Entstehungsort typisiert als monastische, adlige, städtische und kaufmännische Rechnungsbücher. Es fällt jedoch auf, dass sich Rechnungsbücher aus unterschiedlichen Entstehungskontexten ähneln, was die Frage nach konventionalisierten Praktiken der Buchführung aufwirft, denen Akteur:innen aus unterschiedlichen Kontexten offenbar folgten. Das Projekt widmet sich der Frage nach diesen konventionalisierten Praktiken schriftlicher Rechnungsbuchführung. Im Vergleich unter praxeologischer Perspektive ist zu zeigen, dass dass die Rechnungsbuchführung sich zwischen Routine und Innovation bewegte und in ihrer konventionalisierten Funktionsweise Ausdruck eines Beziehungsgefüges war, das durch Abhängigkeit und / oder Macht bestimmt wurde. Aus den vier verschiedenen Entstehungskontexten (Kloster und Hof, Stadt und Kontor) werden repräsentativen Stichproben ausgewählt und ausgewertet. Die so erarbeiteten Ergebnisse werden nach der mikro-exemplary Methode durch Gegenüberstellung mit den Ergebnissen aus vergleichbaren Studien auf Zuverlässigkeit und Repräsentativität überprüft.
Die Rechnungsbücher werden sowohl einer inhaltlichen als auch einer materialwissenschaftlichen Untersuchung unterzogen. Darauf folgt die Erarbeitung übergeordneter konventionalisierter Praktiken, die hinter dem Handeln einzelner stehen. Der Ansatz verbindet theoretische Überlegungen zu konventionalisierten Praktiken und zur material culture. Ziel des Projekts ist es, die konventionalisierten Praktiken der Rechnungsbuchführung offenzulegen. Darauf basierend wird eine neue Typologie mittelalterlicher Rechnungsbuchführung erarbeitet. Die Typologie fokussiert nicht auf den Entstehungsort, sondern berücksichtig die Ausgestaltung der schriftlichen Rechnungen, die konkrete Entstehungssituation und ihre Funktionen innerhalb des Verwaltungshandelns.
Literatur
Freist, Dagmar: Historische Praxeologie als Mikro-Geschichte, in: Brendecke, Arndt (Hrsg.): Praktiken der Frühen Neuzeit: Akteure, Handlungen, Artefakte, Köln [u.a.] 2015 (Frühneuzeit-Impulse 3), S. 62–77.
Johnston, Michael Robert und Michael van Dussen: Introduction: Manuscripts and Cultural History, in: Johnston, Michael Robert und Michael van Dussen (Hrsg.): The Medieval Manuscript Book. Cultural Approaches, Cambridge 2015, S. 1–16.
Lutz, Eckart Conrad: Schreibprozesse? Zur Einleitung, in: Lutz, Eckart Conrad (Hrsg.): Finden - Gestalten - Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen, Berlin 2012 (Wolfram-Studien 22), S. 9–22.
Marmor, Andrei: Social conventions: from language to law, Princeton, N.J 2009 (Princeton monographs in philosophy).
Meier, Thomas, Michael R. Ott und Rebecca Sauer: Materiale Textkulturen Konzepte – Materialien – Praktiken: Einleitung und Gebrauchsanweisung, in: Meier, Thomas, Michael R. Ott und Rebecca Sauer (Hrsg.): Materiale Textkulturen: Konzepte - Materialien - Praktiken, Berlin ; Boston 2015 (Materiale Textkulturen : Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 933, Bd. 1), S. 1–6.
Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Berlin 2020.
Tanner, Jakob: Historische Anthropologie zur Einführung, 3., unveränderte Aufl Aufl., Hamburg 2017 (Zur Einführung).
Irina Dudar: Konvention mittelalterlicher Kunst: Produktion und Rezeption
Konventionen in der Kunst und im Kunsthandwerk entstehen durch adaptive Wiederholungen, die sich in verschiedenen sozialen Gruppen festigen und dennoch innerhalb eines Abweichungsspektrums bewegen können, die akzeptiert werden und Wiedererkennung ermöglichen.
Die Konventionalität künstlerischer Artefakte ergibt sich aus Produktionsschritten und Bedingungen, an deren Herstellung und Kooperation im Mittelalter meist etliche Akteur:innen, Stifter:innen und ganze Gemeinschaften, bspw. Stifte und Geistlichkeit, Mäzen:innen, Handwerker:innen, Concepteur:innen (Brenk 1984) und Auftraggeber:innen, beteiligt waren. Maler:innen trafen ihre Farbwahl für Heiligenfiguren anhand bereits bestehender, ausgesprochener ebenso wie unausgesprochener Übereinkünfte (bspw. die Farbe Blau für den Mantel Mariens) und anhand von Materialsemantiken sowie der Verfügbarkeit von Stoffen. Dies gilt ebenso für Handwerker:innen und Steinmetze, die Werkzeuge und Techniken nutzten, die sich für Bauaufgaben und Objekte mit eigenen mündlich tradierten Regeln und Wissen um Verfahrensweisen bewährt hatten. Die finanziell und indirekt an der Produktion beteiligten Entscheidungsträger:innen bestimmten über Ikonographie und Motive oder über den Ort der Anbringung. Entscheidungen rekurrierten gleichermaßen in Anlehnungen auf Vorgänger:innen und Vorgänger-Objekte, sie wurden also über Konventionen getroffen, förderten Effizienz und Schnelligkeit und wirkten sich stabilisierend auf an der Produktion beteiligte Gruppen aus (Becker 1997). Die Objektentstehung durch Hersteller:innen war gleichermaßen an die Rezipient:innen (zu denen sie selbst auch gehörten) und deren Erwartungen gekoppelt. Insbesondere mittelalterliche hagiographische und biblische Motive wurden zu bildtheologischen Zielen wie Frömmigkeit und Anbetung (Marmor 2009) eingesetzt. Motive wurden erkannt, obwohl sie nicht immer textgetreu umgesetzt wurden, sondern sich synthetisch aus etlichen Quellen zusammensetzen konnten: (Wieder)Erkennung war nicht nur auf Sehgewohnheiten großer sozialer Gruppen und Glaubensgemeinschaften angewiesen, sondern auch auf ihr Wissen um Bedeutung und Inhalt des Dargestellten.
Diese wiederkehrenden, erkennbaren Motive und Ikonographien (so der Pantokrator in der Apsis oder die hl. Katharina mit einem Rad als Attribut) werden von der Kunstgeschichte auch als Bildtraditionen bezeichnet, oder als Bildprogramme, wenn sie in einem Sinnzusammenhang stehen. Handwerkliche Konventionsbrüche oder ikonographische Bildtraditionsbrüche haben in der Regel keine Sanktionen zur Folge, aber der Wiedererkennungswert einer Darstellung, eines Objekts oder die Orientierung im Raum erzeugt eine Störung, die bspw. als Innovation oder Originalität wahrgenommen werden kann. Damit ist Kunst und Kunsthandwerk ein kommunikatives Mittel und mediale Schnittstelle zwischen Rezipient:innen und Produzent:innen, die Konventionen und Traditionen befolgen, erneuern, oder sie willentlich in Teilen oder in Gänze verwerfen und damit Neue schaffen können.
Literatur:
Becker, Howard S.: Kunst als kollektives Handeln, in: Soziologie der Kunst. Produzenten, Vermittler und Rezipienten, Hg. Jürgen Gerhards, Opladen 1997, S. 23–40.
Brenk, Beat: Le texte et l'image dans la „vie des Saints“ au Moyen Âge: rôle du concepteur et rôle du peintre, in: Texte et image. Actes du Colloque internationale de Chantilly (13.–15. Oktober 1982), Paris 1984, S. 31–39.
Marmor, Andrei: Social Conventions: From Language to Law, Princeton, Oxford 2009.
Hannes Fahrnbauer: Handlungen mit Handschuhen
Dem Promotionsprojekt „Handlungen mit Handschuhen. Objekte, Texte und Bilder in Ordnungsentwürfen der mittelalterlichen Kirche (11.–13. Jh.)“ liegt eine Grunddefinition zugrunde, die ‚Konvention‘ als eine gewohnheitsmäßige, nicht oder nur zum Teil verschriftlichte Handlungsweise bestimmt, die sich gegenüber normiertem Handeln durch einen gewissen Spielraum auszeichnet.
Der Konventionsbegriff soll als eine Beschreibungskategorie für Erscheinungen dienen, die sich durch Wiederholung und Variation auszeichnen, ohne dass ein Beharrungs- bzw. Gestaltungswille in der schriftlichen Überlieferung für den Historiker immer nachvollziehbar ist. In Bezug auf den Forschungsgegenstand lassen sich ‚Konventionen‘ auf drei Ebenen beobachten: auf (1) Objektebene, (2) Handlungsebene und (3) Darstellungsebene. Während sich ‚Konventionen‘ auf der Handlungsebene vor allem in (kritischen) Übergangsphasen schriftlich niederschlagen, stellen Artefakte bereits das Ergebnis unterschiedlicher, in Werkstätten geübter Herstellungsverfahren sowie nicht schriftlich fixierter Ausstattungsgepflogenheiten dar.
(1) Auf der Objektebene lässt die materielle Überlieferung in Mittel- und Westeuropa eine überregionale und für längere Zeit geltende Vorstellung von Machart und Aussehen eines liturgischen Handschuhs erkennen. Den jeweiligen wirtschaftlichen Mitteln und handwerklichen Fähigkeiten entsprechend versah man die weißen Handschuhe mit goldenen Medaillons auf dem Handrücken und Goldborten am Einschlupf, wobei augenscheinlich auf ein stimmiges Gesamtbild der einzelnen Bestandteile geachtet wurde. Zu diesem Zweck konnten vergleichbare Applikationen aus anderen Herstellungs- und Gebrauchskontexten verwendet oder auch wiederverwendet werden, zum Beispiel goldene Emailmedaillons mit Christus-, Marien- und Heiligenbildnissen aus Byzanz. Mit dem Aufkommen der Stricktechnik finden sich die charakteristischen Medaillons und Borten auch unmittelbar in das Handschuhgestrick eingearbeitet.
(2) Auf der Handlungsebene vervollständigen die mittelalterlichen Weihe- und Messordines (= Anordnungen) die Kenntnisse zum liturgischen Gebrauch der Handschuhe, die sich allein aus der Untersuchung der Artefakte und ihrer jeweiligen Fund- bzw. Aufbewahrungssituation gewinnen lassen. So können Motivik und Inschriften der Handschuhmedaillons auf die Eucharistie gedeutet werden. Zum Teil weisen mögliche Gebrauchsspuren, wie Wachs oder Weintropfen, auf eine Verwendung in Altarnähe hin. Gerade die offene Struktur der Ordines lässt auf eine liturgische Praxis schließen, in der der Zelebrant nur bei Bedarf auf einen geschriebenen Text zurückgriff, etwa als Erinnerungshilfe bei selten vollzogenen Riten oder als Richtschnur bei liturgischen Innovationen.[1] Auf diese Weise könnte sich die uneinheitliche und inkonsequente Berücksichtigung der Handschuhe in den Rubriken (= Anweisungen) der Ordines erklären.
‚Konventionen‘ (Bräuche) werden nicht nur in ihren Entstehungs- und Auflösungsphasen fassbar, weil diese Veränderungen häufig uneinheitliche, wenn nicht gegensätzliche Reaktionen bei den Zeitgenossen hervorriefen, sondern eben auch in einer kulturellen, rituellen Außenperspektive, wie an einer verbreiteten polemischen Schrift aus dem mittelalterlichen Byzanz deutlich wird: In dem sog. „Opusculum contra Francos“ des Ps.-Photius geht der byzantinische Verfasser in einem Punkt auf die liturgische Kleidung der lateinischen Priester und Bischöfe ein, worunter er sich auffallend für die Handschuhe und deren figürlichen Applikationen interessiert.[2] Die relativ ausführliche Beschreibung der Handschuhe dürfte auf das Befremden des Verfassers gegenüber einem liturgischen Handschuhgebrauch zurückzuführen zu sein. Umgekehrt können die wenigen ikonografischen Angaben in den lateinischen Schriftzeugnissen auf die Normalität einer solchen Ausstattung hinweisen. In der Kontroverse zwischen der orthodoxen und lateinischen Kirche schlägt sich der liturgische Brauch, Handschuhe mit figürlichen Applikationen zu tragen, in einem Textzeugnis nieder.
(3) Natürlich unterliegen die Darstellungen der Handschuhe und ihrer Funktionen in Text- und Bildzeugnissen ihren eigenen unausgesprochenen Regeln. So erscheinen Bischöfe in illuminierten Handschriften in vollständigem Ornat gekleidet, ohne dass eine entsprechende liturgische Situation gegeben sein muss. Offensichtlich sollen die hochrangigen Kleriker durch die Insignien als Besitzer umfassender weltlicher und geistlicher Macht ausgewiesen werden.
Für die Frage nach ‚Konvention‘ im Sinne einer seit Langem geübten und erst zu einem späteren Zeitpunkt verschriftlichten Praxis waren vor allem die Beobachtungen an den Objekten und ihre rekonstruierten Handlungszusammenhänge ergiebig.
[1][1][1] Z. B. Helen Gittos/Sarah Hamilton: Understanding Medieval Liturgy. Essays in Interpretation, Farnham (Surrey)/Burlington 2016; Vortrag Julia Exarchos (Aachen): Die Macht der Gewohnheit: Tradition und Innovation in der mittelalterlichen Liturgie, 01.10.2019, im Rahmen der ersten Tagung des GRK 2212 „Dynamiken der Konventionalität (400–1550)“: Gewohnheit als Regulativ des Handelns im Mittelalter, Köln, 30.09.–02.10.2019.
[2] Ps.-Photius: Opusculum contra Francos, Artikel 13. Ed. Joseph Hergenröther: Monumenta Graeca ad Photium ejusque historiam pertinentia, Regensburg 1869, S. 66. Zu dieser polemischen Textgattung siehe Tia M. Kolbaba: The Byzantine Lists. Errors of the Latins, Urbana/Chicago 2000.
Elias Friedrichs: Der ritterliche Kampf als konstitutive Konvention
Seit dem 12. Jahrhundert gestaltet sich der Kampf zwischen gepanzerten Reitern als ein symmetrisches Aufeinandertreffen, unabhängig davon, ob er in einem fiktionalen Rahmen höfischer Erzählliteratur situiert ist oder ob er als ein Element historischer Kriegsführung beobachtet wird. Die Kontrahenten kämpfen zu Pferde, sind ähnlich gerüstet und bewaffnet und üben die gleichen Praktiken aus: Auf ein (gelegentlich wiederholtes) Anrennen mit der Lanze, folgt das Kämpfen mit dem Schwert. Beides sind Formen physischer Gewaltausübung, die ein notwendiges Merkmal des Kampfes sind. Zusammengenommen sind dies die konventionellen Elemente des ritterlichen Kampfs.
Die beobachtete Gleichförmigkeit ritterlicher Kampfpraktiken lässt sich als Ausdruck einer konventionell geprägten Regelhaftigkeit auffassen, wie sie Andrei Marmor theoretisiert: Eine Gruppe von Menschen folgt in einer bestimmten Situation bestimmten Regeln, um damit ein bestimmtes Ziel zu erreichen oder anders ausgedrückt: Bestimmte Gruppen von Kämpfern üben im Kampf bestimmte Praktiken aus, um zu siegen. Marmor nennt als weiteres Definitionskriterium, dass die jeweilige Konvention theoretisch eine ähnlich wirksame Alternative aufweisen muss, wodurch der Grund, warum eine Praktik der Alternative vorgezogen wird, als entscheidender Bestandteil konventioneller Gebundenheit hervortritt. Zweierlei Formen von Gründe hebt Marmor dabei besonders hervor: Zum einen das Streben nach Konformität mit den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft und zum anderen die Werte, die diese Gesellschaft der jeweiligen Praktiken zuweist.
In meiner Arbeit untersuche ich den Zusammenhang zwischen konventionellen Praktiken des Kämpfens und den Wertzuschreibungsmustern, wie sie sich jeweils in fiktionalen und historiographischen Texten des hohen Mittelalters niederschlagen. Die von Marmor herausgearbeiteten ‚konstitutiven Konventionen‘ haben sich hier als besonders ertragreich erwiesen. Im Unterschied zu ‚regulativen Konvention‘ beschränken sich jene nicht darauf, bereits bestehende Verhaltensformen zu regulieren oder das Verhalten von Gruppenmitgliedern zu koordinieren. Stattdessen konstituieren sie eine Praktik, in meinem Falle den ritterlichen Kampf mit den genannten Regularien. Darüber hinaus erzeugen konstitutive Konventionen jedoch auch ein Wertsystem, nach dem die einzelnen Handlungen innerhalb einer Praktik von der Gesellschaft bewertet werden können, bspw. ein besonders starker oder geschickter Schlag oder Lanzenstich. Die These, die ich in meiner Arbeit verfolge, lautet diesbezüglich, dass die leistungsorientierte Bewertung einer Kampfhandlung die moralische Bewertung einer Gewalthandlung überschreibt und somit dazu beiträgt, die Praktiken kriegerischer Gewalt des mittelalterlichen Adels zu legitimieren.
Literatur
Kaeuper, Richard W.: Medieval Chivalry, Cambridge 2016.
Marmor, Andrei: Social Conventions. From Language to Law, Princeton/Oxford 2009.
Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, in: Ders.: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 97–130.
Nils Hausmann: Die Rolle der Dinge
Eine Handlung kann als konventionell bezeichnet werden, wenn sie in einem bestimmten Zusammenhang Verbindlichkeit besitzt, obwohl gleichwertige Alternativen bestehen, zugleich aber keine dieser Alternativen durch Vorschriften als Norm festgelegt ist (Marmor: „Arbitrarität“). Man könnte das betreffende Ziel bei vergleichbarem Aufwand also ebenso gut mit einer dieser alternativen Handlungsoptionen erreichen (Beispiel: Handschlag als Form der Begrüßung – Alternative: verbeugen). Hieraus können einige Folgerungen abgeleitet werden:
- Die Etablierung einer der Alternativen als Konvention beruht auf Übereinkunft. Denn es liegen ja keine Vorschriften hinsichtlich ihrer Auswahl vor.
- Da es sich „nur“ um eine Übereinkunft handelt, ist die Konvention veränderbar.
- Da keine Vorschriften ihre konkrete Ausgestaltung festlegen, wird eine Konvention mit jedem akzeptiertem Vollzug aufs Neue hervorgebracht. „Wirksam (und manifest) werden […] Konventionen […] allein in konkreten Handlungen und also immer situativ.“ (Lieb/Strohschneider, S. 114)
- Da perfekte Wiederholung nicht möglich ist, besteht immer eine gewisse Abweichung zwischen zwei Ausprägungen einer Konvention. Konventionen erscheinen somit als ständigem Wandel unterworfen („Dynamik“).
Aufgrund dieser Umstände können sich Konventionen unbeabsichtigt „einschleichen“, sie „kommen und gehen, sie entstehen und verschwinden schleichend.“ (Lieb/Strohschneider, S. 116)
Die Betrachtungsweise unter dem Gesichtspunkt der Konventionalität wurde vor allem von Seiten der Soziologie entwickelt, das heißt anhand der Beobachtung von Gesellschaft. Die Kunstgeschichte beschäftigt sich hingegen mit Dingen. Wie lassen sich beide Perspektiven verbinden? Die modernen kulturwissenschaftlichen Theorien betonen den Anteil der Dinge am menschlichen Handeln. Führt man diese Gedanken zusammen, gelangt man zu der Frage, ob auch die Dinge Anteil am Zustandekommen von Konventionen haben.
Das Einbeziehen von Dingen in konventionelle Handlungen scheint auf den ersten Blick deren Fixierung zu bewirken, legen Dinge doch gewisse Handlungen nahe, die bei ihrer Herstellung erwünscht waren und zu deren Zweck (Latour: „Aktionsprogramm“) sie angefertigt wurden. Doch erfasst diese Wahrnehmung von Dingen deren Eigenschaften nur ausschnitthaft und zudem bereits in einer spezifischen Konstellation (Gibson: „Affordanz“). Das verstellt den Blick auf den potenziell weiten Umfang ihres „Vorrats an Eigenschaften“ (Hahn 2016, S. 14; ähnlich: Gibson, S. 68). Dinge können – im Rahmen ihrer Handhabung – immer auch anders benutzt werden als bei ihrer Herstellung intendiert (Hahn 2014, S. 47) – auch mit einer Maurerkelle kann man eine Schraube festziehen.
An dieser Stelle lässt sich das Paradigma der Konventionalität mit der Perspektive der Dinge verbinden, nimmt Ersteres doch gerade das Spannungsverhältnis zwischen Beständigkeit und Wandel in den Blick, als dessen Gegenstand Letztere in der oben eingenommenen Betrachtungsweise erscheinen. Entscheidend ist nun, dass die stets latente Abwandlung von Konventionen nicht immer planvoll erfolgen muss, sondern sich unwillkürlich – nämlich im Moment der Handhabung von Dingen – vollziehen kann. Was Michael Thompson in Hinblick auf Weltanschauungen formulierte, muss demnach auch für Konventionen in Rechnung gestellt werden: Sie „entstehen nicht einfach durch einsame Innenschau, sondern werden durch die Beschäftigung sowohl mit Menschen als auch mit Objekten erworben.“ (Thompson, S. 196)
Aus dieser Perspektive betrachtet, macht es einen Unterschied, ob bei der Verlesung des Evangeliums in der mittelalterlichen Messliturgie das Evangeliar fest mit einem Einband verbunden war, oder ob es stattdessen zunächst aus einem Buchkasten entnommen werden musste. Denn beide Formen der Buchhülle eröffnen je spezifische Möglichkeiten der Handhabung. Hieraus haben sich unterschiedliche Konventionen des Gebrauchs entwickeln können. Mit diesen wiederum haben sich unterschiedliche Wahrnehmungsweisen und Deutungen des Evangeliars verbinden können. Angesichts der hohen Signifikanz des Evangeliars innerhalb der mittelalterlichen Liturgie muss es verwundern, dass der liturgische Gebrauch von Buchkästen in den überlieferten Quellen keinen Niederschlag gefunden hat. Wir besitzen über diesen keine Kenntnis. Die oben beschriebene Offenheit von Konventionen hilft mir in meinem Dissertationsprojekt, mit diesem blinden Fleck umzugehen. Denn die Berücksichtigung der Konventionalität liturgischer Handlungen macht auf die Frage nach der Verbindlichkeit schriftlicher Verlaufsordnungen aufmerksam und hilft mir, das Verhältnis zwischen Schriftquellen und den überlieferten Buchkästen zu beschreiben.
Literatur:
- Gibson, James J.: „The theory of affordances“, in: Robert Shaw, John Bransford (Hg.), Perceiving, acting, and knowing. Toward an ecological psychology, Hillsdale 1977, S. 67-S82.
- Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin ²2014 (2005).
- Hahn, Hans Peter: „Der Eigensinn der Dinge. Warum sich Objekte in bestimmten Momenten anders verhalten, als sie es sollten“, in: helden. heroes. héros. 4.1 (2016). (https://www.sfb948.uni-freiburg.de/de/publikationen/ejournal/ausgaben/4.1.2016?page=1)
- Latour, Bruno: Der Berliner Schlüssel, Berlin 1996 (franz. La clef de Berlin, 1993).
- Ludger Lieb/Peter Strohschneider: „Konventionalität der Minnerede“, in: Eckart Conrad Lutz/Johanna Thali/René Wetzel (Hg.), Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation, Tübingen 2005.
- Marmor, Andrei: Social Conventions. From Language to Law, Princeton/Oxford 2009.
- Thompson, Michael: Die Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten, Stuttgart 1981 (engl. Rubbish theory, 1977).
Ilaria Fusani: Conventionality in oral and written practices of the Gregorian Chant
Oral practice and music writing are based on conventions and their changes imply or react to dynamics. In this regard, the adoption of staff notation during the 11th century provoked changes in the oral practice conventions and in the singular neumatic traditions. My dissertation focuses on these dynamics of transformation, in particular how the staff notation changed the use of the ornamental signs and the oral performative nuances. The analysis regards Italian sources of the 11th century and the beginning of the 12th century belonging to: Benevento, Rome, Tuscany, Bologna and Emilian area, Ravenna.
Presupposing that conventionality can be described as the combination of conventions used by a community and the action of following them, its role in the Gregorian chant field can be determined as follow. The function of conventionality in Gregorian chant context is based on the "chant community" description. As Haas and Treitler explain, the members of a chant community agree on the function and meaning of their signs. In this sense, every sign (e.g. chant or neume) has a specific function: this function is its meaning. With similar words, Marmor describes convention as a rule followed by a group of people. In order to exist, the convention must be practiced and followed by the community. Given this, a community can be determined by its conventions.
From the early phase of Gregorian chant, the communities developed different kinds of oral conventions with which reproduce the repertory. The oral remembering and transmission of chants were not uniform in all territories. Consequently, different conventions in different regions produced new formulations of existing chants and different chants praxis. Music writing was introduced at the end of the 8th century. This early neumatic notation served the Magister and singers as a mnemonic aid. Indeed, reading, remembering, orality and extemporization were mutually supportive and interdependent. The adoption of music writing introduced rules in some aspects that were unstable in the oral tradition and in the different territorial conventions. According to Marmor, notation is a normative solution to a large-scale recurrent coordination problem. In this sense, the early music notation can be described as a coordinative convention then developed and codified in the staff system. The individual territories generated different kinds of music notation which translate the oral performance to the writing practice. These notations tried to capture their singing conventions using their singular writing tradition. Then, the most effective writing was the one able to give the relevant singing information for the individual chant community. In this context, some neumatic writing gave approximative indications of pitch, while others indicated sound movement and performative nuances. The main purpose of all of the chant communities and their conventions was to get the most accurate version of the ancient Roman chant and the Roman vocal style. Therefore, the members of the chant community used the sign as the one for a specific context. It was used in that context because was the most efficient and relevant for the group in reaching its purpose. Against this background, a different kind of arbitrariness is needed. Despite the Marmor description of arbitrariness as an alternative rule that can be used instead of the other without loss of purpose, the chant community used a specific rule because it was the most efficient and relevant for them to gain the main purpose. Given this, the arbitrariness definition can be reformulated for the chant communities’ context as follow: there is a reason, or a combination of reasons, for members of a community to follow a convention instead of another under specific circumstances. The convention is used by the community in a specific context because it is the most practical, efficient, and relevant to solve a coordination problem and to reach a purpose (e.g. translate an oral convention into a specific writing system). An alternative convention that can be used in the same circumstance exists, but it might not follow the “efficient, practicality and relevance parameters” required by the specific community. Efficiency is the parameters refer to achieving maximum productivity with minimum wasted effort (e.g. in the Medieval manuscript culture was important a good use of resources and to make good use of time or energy while preparing the manuscript ruling and in the writing practice). Practicality can be considered as the attribute of things of being put in use in the easiest and most useful way to gain a purpose. These two parameters describe the characteristic of the neumatic writing and the staff system: giving the peculiar singing information in the easiest and less-time spending way. Additionally, since communication is the process of transmitting information, the written system can be intended as an act of communication. Following the relevance theory developed by Sperber and Wilson in the communication field studies every act of communication presupposes relevance. In this regard, a community used specific writing conventions (music signs) to communicate parameters and sound-relations that were relevant for that specific community.
This arbitrariness description highlights another aspect: conventions ask for different qualitative descriptions depending on the context and field in which they are used.
The early staff system was introduced by Guido d'Arezzo in the 11th century, concurrently with the Gregorian reform. In order to contrast the lability of the oral transmission, a process that could have given unity to the territories was the transcription of the chants with a more precise and unification system. In this sense, the staff system was a coordinative solution to a coordination problem. Taking again from Marmor's explanations, sometimes conventional practices are replaced by institutional codification and thus they may become institutional practices. Even though the staff principle became an institutional codification, the individual neumatic notation still in use remained conventional. Only from the square notation, the liturgical music writing gained institutional codification.
The new writing principles were embraced uniformly, but with local variations in neume shapes depending on their peculiar neumatic conventions. These circumstances brought to an early phase of new music writing convention shared by the majority of the chant communities, even though – until the square notation – the territories' traditions continued to use their peculiar neumatic forms. With the adoption of the new staff system, the chant communities reformulated their oral and writing conventions in line with the new system. They re-negotiated the meaning of the signs according to the new writing principles embraced by the other chant communities as well. These changes were a consequence of the confrontation of oral and writing conventions and the interdependent reformulation of their respective rules. Consequently, conventions can be re-negotiated according to new needs and the other conventions only if the community agrees on the new functions and meanings.
The staff system was used to learn the repertory thanks to the new pedagogical strategies gradually detached from the Magister's instruction, for which the pueri cantores ceased to memorize the chants and started learning music theory and music writing. Using Bourdieu's terminology, with the adoption of the staff notation the field of music practice required to its members the knowledge of new notions: music theory, neumatic notation, new learning system. Thereby, when a new convention is introduced, a field may ask for a renew. Since the rules of the field have been renewed, those who want to enter the field must have a habitus and skills pertinent to the new conventions of the field.
Bibliography
Carruthers, Mary J., The Book of Memory: A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge: Cambridge University Press, 1990.
Geertz, Glifford, “Common Sense as a Cultural System”, Antioch Review, Bd. 33,1, 1975, pp. 5-26.
Haas, Max, Musikalisches Denken im Mittelalter: eine Einführung, Bern, Peter Lang, 2005.
Hiley, David, Western Plainchant: a Handbook, Oxford University Press, Oxford, 1993.
Marmor, Andrei, Social Conventions. From Language to Law, Princeton 2009.
Reckwitz, Andreas, “Habitus oder Subjektivierung? Subjektanalyse nach Bourdieu und Foucault”, Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaften. Zur Aktualität eines undisziplinierten Denkens, Hrsg. Suber, D., Schäfer, H. und S. Prinz, 2011, 41-61.
Sperber, D., Wilson, D., Relevance: Communication and Cognition, Oxford: Blackwell, Second edition, 1995.
Treitler, Leo, “The ‘Unwritten’ and ‘Written Transmission’ of Medieval Chant and the Start-Up of Musical Notation”, in The Journal of Musicology, California: University of California Press, Vol. 10, No. 2, 1992, pp. 131-191.
Treitler, Leo, With Voice and Pen. Coming to Know Medieval Song and how it was Made, Oxford: Oxford University Press, 2003.
Simone Hallstein: Konventionalität im Spannungsfeld zwischen Judenfeindlichkeit und Medienwandel im Spätmittelalter. Ein erster Annäherungsversuch
Im Rahmen meines sich am Anfang befindenden geschichtswissenschaftlichen Dissertationsprojektes soll untersucht werden, welche Auswirkung die Einführung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern (Mitte des 15. Jahrhunderts) und der damit verbundene Medienwandel auf den judenfeindlichen Diskurs des Spätmittelalters hatten. Hierfür können einige konventionalitätstheoretische Ansätze fruchtbar gemacht werden. Konventionen werden dabei vorläufig nach Andrei Marmor als Verhaltensregeln gefasst, denen eine bestimmte Gruppe, unter bestimmten Umständen folgt. Im Laufe des Mittelalters bilden sich innerhalb des judenfeindlichen Diskurses verschiedene konventionalisierte Argumentationslinien heraus, die in verschiedenen Texten tradiert, aktualisiert, modifiziert und ergänzt wurden. In Bezug auf die Veränderbarkeit von Konventionen spielt das von Marmor herausgestellte Merkmal der Arbitrarität, die auf einer diskursiven Übereinstimmung der relevanten Akteur:innen basiert, eine entscheidende Rolle. Eine Analyse dieser willkürlichen Anpassungen ermöglich es Rückschlüsse zu ziehen auf die Kontexte, in denen die judenfeindlichen Drucke entstanden und verbreitet wurden. Auch können so verschiedene Akteur:innen des judenfeindlichen Diskurses sichtbar gemacht werden, insoweit sich diese anhand spezifischer Konventionen identifizieren lassen.
Der spätmittelalterliche Medienwandel kann als Transformationsprozess etablierter Konventionen verstanden werden, da hierbei Praktiken sozialer Kommunikation in andere mediale Rezeptionshorizonte und Gebrauchsräume transformiert wurden. In Bezug auf den judenfeindlichen Diskurs sollen die Gestaltungsmuster und -formen der Frühdrucke als mediale Realisierung textlicher und bildlicher Darstellungskonventionen untersucht werden. Das sich erst etablierende typografische Druckverfahren sowie die vielzähligen Produktionsschritte und Arbeitsvorgänge, die mit Organisation, Finanzierung, Herstellung und Absatz von Druckerzeugnissen verbunden waren, lösten neue Aushandlungsprozesse aus, an denen eine Vielzahl unterschiedlichster Akteur:innen beteiligt war. Es ist dabei zu prüfen, inwieweit diese zum judenfeindlichen Diskurs beitrugen, ihn beförderten oder begrenzten. Mit den Entstehungs- und Kommunikationszusammenhängen der judenfeindlichen Drucke verbunden sind Prozesse des Auswählens für die Drucklegung, die zu einer ‚Kanonisierung’ bestimmter judenfeindlicher Texte führte. In den Blick genommen werden daher dynamische Aushandlungsprozesse, an denen diskursrelevante Akteur:innen (Verfasser:innen, Herausgeber:innen, Drucker:innen, Rezipient:innen usw.) produktiv beteiligt waren und die zur Verstetigung von Konventionen führen konnten.
Die Konventionen in den gedruckten Adversus-Judeos-Texten sowie die medienkonstituierten Konventionen der Frühdrucke initiierten, implizierten und reagierten in interdependenter Weise mit den Dynamiken des judenfeindlichen Diskurses sowie mit denen des spätmittelalterlichen Medienwandels.
Literatur
Udo Friedrich und Christiane Krusenbaum-Verheugen: Konventionalität und die Literatur der Vormoderne. Zur Einführung, in: Kunst und Konventionalität. Dynamiken sozialen Wissens und Handelns in der Literatur des Mittelalters, hrsg. von dens. und Monika Schausten. Berlin 2021, S. 7-61.
Andrei Marmor: Social conventions. From language to law. Princeton, NJ 2009.
John R. Searle: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge, MA 1969.
Alisa Hajdarpašić: Topisches Wissen und die Dynamik des Verhältnisses von Regel und Fall im frühneuzeitlichen Prosaroman
Meine Arbeit widmet sich den Argumentations- und Kohärenzbildungsverfahren des Exemplarischen als einer Erzählform, die den Transfer des topischen Orientierungswissens in die Literatur ermöglicht. Das konventionalisierte Wissen einer Gesellschaft besteht aus wiederkehrenden Handlungs- und Deutungsmustern sowie kollektiv geteilten Annahmen und Vorstellungen über die Wirklichkeit: Dazu zählen Präferenzen und Erwartungen sowie Schemata von Wertzuordnung, beziehungsweise Muster der Urteilsbildung über Menschen und Ereignisse, die kollektive Akzeptanz genießen. Die Bestände des topischen Wissens gehören zugleich zu argumentativen Grundlagen exemplarischer Geschichten, weil sie im Common Sense einer Gesellschaft verankert und folglich dazu geeignet sind, narrativ vorgeführte Zusammenhänge zu plausibilisieren.
Soziologisch betrachtet fungiert das topische Archiv als ein Orientierungsinstrumentarium jenseits von Normen regulierter Diskurse. Die Funktion von konventionalisierten topischen Vorstellungen liegt in der Komplexitätsreduktion im Rahmen von kontingenten Handlungssituationen, weil sie den Aufwand bewusster kognitiver Prozessualisierung reduzieren können. Im Unterschied zu juristischen Normen können die topischen Weisheiten jedoch nicht systematisiert werden: Das topische Reservoir beinhaltet auch widersprüchliche Aussagen über die Welt. Es handelt sich darüber hinaus um Wahrscheinlichkeitsannahmen, die weder beliebig noch allgemeingültig sind und folglich Handlungssituationen nur potenziell kalkulierbar machen. Mit den Besonderheiten des topischen Orientierungswissens hängen auch die Problemfelder zusammen, denen sich mein Projekt im Hinblick auf das exemplarische Erzählen und sein Potenzial, die Geltung von Regeln auch zu reflektieren, widmet. Die Arbeit untersucht, wie die handelnden Figuren im Rahmen unterschiedlicher kommunikativer Kontexte mit der sich artikulierenden – nicht zuletzt durch rasche Expansion des Wissens in der Frühen Neuzeit bedingten – Vielheit an Handlungs- und Interpretationsalternativen situativ und auf den Lebenszusammenhang bezogen umgehen.
Literatur:
BOURDIEU, Pierre. Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998.
FEILKE, Helmuth: Common-sense-Kompetenz: Überlegungen zu einer Theorie des "sympathischen" und "natürlichen" Meinens und Verstehens. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994.
FOHRMANN, Jürgen. Abenteuer und Bürgertum: zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert. Stuttgart: 1981.
GEBERT, Bent: Poetik der Tugend: zur Semantik und Anthropologie des Habitus in höfischer Epik / In: Text und Normativität im deutschen Mittelalter: XX. Anglo-German colloquium / hrsg. von Elke Brüggen .... - Berlin [u.a]: De Gruyter, 2012, pp. 143-168, 2012, S. 143-168.
GEERTZ, Clifford: Common Sense as a Cultural System, in: Ders., Local Knowledge, New York, NY 1983, S. 73–93; dt., Common sense als kulturelles System, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 21991, S. 261–288 [zuerst 1983].
GUMBRECHT, Hans Ulrich. The Roads of the Novel, in: The Novel, Volume 2, Forms and Themes, hg. von Franco Moretti. Berlin: 2006, S. 611-646.
HÜBNER, Gert. Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen: Plädoyer für eine praxeologische Narratologie, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Berlin: 2012, S. 175-206, hier S. 182.
KALLWEIT, Hilmar: Loci Communes: Eine Epochale Figur Topisch Organisierten Wissens, in: Drsg., Kulturelle Konfigurationen: Studien zum Verhältnis von Wissensordnungen und Erzählformen, Paderborn: 2015, S. 61-86.
LUHMANN, Niklas. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, in: Bewegung und Wahrnehmung als System, hg. von R. Balgo. Dortmund: 1997.
Markus Jansen: Konvention und Habitus
Unter Nutzung des Habitusbegriffs des Soziologen Pierre Bourdieu ist es das Ziel meiner Arbeit, das kriegerische Agieren und die darauf aufbauenden Repräsentationsformen der Kölner Elite des Spätmittelalters zu untersuchen. Habitus lässt sich als Ausdruck gruppenbezogener Konventionen begreifen, die aktiv handelnde sowie repräsentative Facetten gruppenbezogenen Agierens abbilden. Bourdieu umschreibt den Habitus als „Sinn für das Spiel“[1] und meint damit die einer Gruppe inkorporierten Handlungs-, Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen, die durch Repetition erlernt und in einer Vielzahl von Situationen geprägt wurden. Durch diesen sind die bewussten wie unbewussten gruppenspezifischen Verhaltensweisen bedingt, die sich auf diverse Situationen übertragen und anwenden lassen und auch aufgrund ihrer Effizienz und ihres Nutzens unter gewandelten sozialen Rahmenbedingungen fortbestehen können.[2]
Habitus wird nicht nur passiv wahrgenommen, sondern liefert den Agierenden eine spezifische Strategie, die sie auf Basis eigener Interessen verfolgen.[3] Eine zentrale Rolle dabei spielte die soziale Herkunft. Für Angehörige einer sozialen Gruppe sind die Bedingungen ihrer Sozialisation ähnlich und konstituieren damit einen sich in vielen Punkten ähnelnden Gruppenhabitus.[4] Sozial führende Akteure geben dabei ein Leitbild für den Rest der Gesellschaft ab. Der Gruppenhabitus ist nicht exklusiv und kann daher verschiedene Gruppen habituell verbinden.
Habitus bildet sich in physischen und abstrakten Aktionsräumen heraus, für die Bourdieu den Begriff des Feldes nutzt. Dieses umfasst Strukturen sowie Handlungsressourcen und zeichnet sich durch eigene Regeln und eigene Ziele sowie eigens dafür benötigte Fähigkeiten aus. Die in einem Feld erworbenen Praktiken lassen sich auf andere Felder übertragen, sind dort aber nicht notwendigerweise im gleichen Maße zielführend oder praktikabel.[5]
Zugleich ist der Habitus einer Gruppe langlebiger als deren Akteure und auf nachfolgende Generationen übertragbar. Neue Mitglieder müssen auf existente Verhaltensweisen rekurrieren, können diese adaptieren, modifizieren oder negieren. Zugleich variiert ihre Bedeutung innerhalb der Gruppe, da es oftmals einen kleineren Personenkreis gibt, der sie prägte, und einen größeren Personenkreis, der ihnen folgt. Meist ist die Konvention der sie befolgenden Gruppe bewusst, weswegen sie eine narrative Begründung zur Erklärung der gegenwärtigen Handlungsweisen ausbildet. Oft ist es gerade der Bruch, der die impliziten Konventionen einer Gruppe ans Licht treten lässt.[6]
Literatur
Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982.
Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1976.
Boudrieu, Pierre: Zur Genese der Begriffe Habitus und Feld. In: Ders.: Der Tote packt den Lebenden. Neuauflage der Schriften zu Politik & Kultur 2, hg. v. Margareta Steinrücke. Hamburg 2011, S. 55-73.
Rehberg, Karl-Siegbert: Zur Konstruktion kollektiver ‚Lebensläufe‘. Eigengeschichte als institutioneller Mechanismus. In: Gert Melville, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Gründungsmythen – Genealogien – Memorialzeichen. Beträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität. Köln 2004, S. 3-18.
[1] Bourdieu: Habitus und Feld, S. 58.
[2] Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 281.
[3] Bourdieu: Habitus und Feld, S. 58.
[4] Bourdieu: Theorie der Praxis, S. 180, der hier den Klassenbegriff nutzt.
[5] Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 164.
[6] Rehberg: Konstruktion, S. 11.
Annette Kaldorf: Konventionalität und mittellateinische Epik
Die Frage nach Konventionalität in der Literatur ist eng verbunden mit dem Diskurs über literarische Gattungen. Wie nahezu alle Aspekte sozialen Lebens ist auch die Literatur durch Konventionen geprägt, wobei die mittellateinische Epik sich dadurch von anderen literarischen Gattungen absetzt, dass sie sich sprachlich und stilistisch an antiker Dichtung orientiert und dadurch vergleichsweise wenige Veränderungen durchläuft. Dies erschwert das Herausarbeiten von Konventionen, die speziell für die mittelalterliche Dichtung typisch sind.
Andrei Marmor definiert Konventionen als arbiträre Regeln, denen man folgt, obwohl man auch anderen Normen hätte folgen können, die ein ähnliches Ergebnis produziert hätten. Ein Beispiel dafür in der mittellateinischen Epik ist die Wahl des Hexameters als Metrum, was sowohl die Griechen als auch die Römer schon taten. Dennoch gibt es auch mittellateinische Dichtungen, die in einem anderen Metrum verfasst wurden, thematisch und stilistisch jedoch eigentlich auch der Gattung Epos zuzuordnen sind. Obwohl das Textkorpus meiner Arbeit der metrischen Konvention des Hexameters folgt, bieten in anderen Metren verfasste Werke einen guten Ansatzpunkt, um das mittellateinische Epos zu definieren.
Die im Mittelalter angewandten epischen Konventionen sind keine Folge von zeitgenössischem Austausch, sondern folgen dem Prinzip der imitatio. Die primäre Vorlage der Autoren ist sicherlich Vergils Aeneis, doch finden sich auch viele Spuren anderer klassischer Epen. Die Praxis, sich von Vergil entweder abzusetzen oder ihn nachzuahmen, ist beinahe so alt wie sein Werk selbst. Die Aeneis als Muster für ein Epos zu sehen ist damit wohl die zentralste Konvention der mittellateinischen Epik, die sich über 1200 Jahre hinweg gehalten hat. Damit überdauert das (mittel)lateinische Epos den Epochenbegriff.
Dieser lange Zeitraum ist umso bemerkenswerter, wenn man an den Sprachwandel denkt, der in dieser Zeit stattfand, nicht zuletzt die Entstehung der romanischen Sprachen. Während auch volkssprachliche Epik im Mittelalter entsteht (Beowulf, die Edda oder die Chanson de Roland, beispielsweise), greifen viele Dichter auf die lateinische Sprache zurück. Die Wahl Vergils als Vorlage verwundert nicht weiter, da er einer der ersten Autoren war, mit denen Schüler im Rahmen ihres Schulunterrichts in Berührung kamen. Beim Verfassen eigener Werke stand den Dichtern somit ein reicher Wort- und Phrasenschatz zur Verfügung. Die Präsenz Vergils lässt sich deutlich in allen Werken meines Textcorpuses nachweisen, nicht alleine deshalb, weil er in einigen Werken bereits recht früh im Text namentlich erwähnt oder angesprochen wird.
Mit Walter von Châtillons Alexandreis kommt dann im späten 12. Jahrhundert ein Werk hinzu, das in den Kanon der Schullektüre aufgenommen wurde und somit als Vorlage für weitere Epen diente. Hier kann jedoch keineswegs vom Entstehen einer neuen Konvention gesprochen werden, da die Aeneis als Vorlage nicht ersetzt, sondern um ein an ihr orientiertes Werk ergänzt wurde. Marmors Gedanke, dass literarische Konventionen sich gegen ältere Konventionen auflehnen und diese zu modifizieren versuchen,[1] trifft folglich nicht auf mittellateinische Epik zu. Statt einer Revolution der Konventionen kann hier eine Evolution beobachtet werden.
Für die Untersuchung epischer Konventionen müssen einerseits formale Aspekte (Wahl des Metrums, Länge des Werkes), andererseits stilistische Aspekte (Nähe zu antiken Vorlagen, Lexik, Phraseologie) berücksichtigt werden.
Literatur
Friedrich, Udo/Krusenbaum-Verheugen, Christiane: Konventionalität und die Literatur der Vormoderne. Zur Einführung, in: Friedrich, Udo; Krusenbaum-Verheugen, Christiane; Schausten, Monika (ed.): Dynamiken der Konventionalität in literaturwissenschaftlicher Perspektive, Berlin 2021, S. 1-55.
Lewis, David. Convention. A Philosophical Study, Cambridge 1969.
Marmor, Andrei. Social Conventions. From Language to Law, Princeton 2009.
[1] Vgl. Marmor (2009) S. 49.
Adrian Kammerer: Konventionen und die dominikanische Drittordensregel: Einige Aspekte
Konventionen sind soziale Übereinkünfte, die als Reaktion auf Probleme, mit denen soziale Gruppen umgehen müssen, entstehen. Viele Konventionen sind Regeln, aber nicht alle Regeln sind Konventionen; eine Regel, die auf institutionellem Zwang statt allgemeiner Zustimmung in der jeweiligen Gruppe beruht, ist keine Konvention. Damit sind Konventionen blickwinkelabhängig. Diesen Umstand beschreibe ich mit dem Begriff der Konventionalität: Eine Regel, die jemandem aufgezwungen wird, ist für diese Person keine Konvention. Dieselbe Regel mag jedoch insofern konventionell sein, als sie auf einer Übereinkunft der regelgebenden Instanzen beruht, wie ein zugrundeliegendes Problem zu lösen sei. Damit ist die Unterscheidung zwischen Regeln und Konventionen eine graduelle, die Begriffe schließen sich nicht strikt aus, sondern beleuchten jeweils die Perspektive einer bestimmten Gruppe. Konventionalität ist dann die Eigenschaft eines sozialen Phänomens hinsichtlich zumindest einer Gruppe, durch Übereinkunft zumindest dieser beteiligten Gruppe zustande gekommen zu sein. In meiner Arbeit soll versucht werden, die gesellschaftlichen Prozesse zu verstehen, die bei der Verbreitung und Modifizierung der dominikanischen Drittordensregel wirkten. Dabei ist erkennbar, dass die genaue Reichweite der Regel in einzelnen Situationen oft neu verhandelt wurde, wobei die Spannung zwischen Konventionen und auf institutionellem Zwang basierenden Regeln deutlich wird. Ein Großteil des erhaltenen Quellenbestandes besteht aus normativen Texten, die aber gleichzeitig von Fall zu Fall ihre Aussagen variieren und damit zeigen, dass die schriftlich streng fixierte Lebensweise in der Praxis zum Teil neu angepasst wurde. Zugleich kann bezüglich einer Ordensregel, die sich erst allmählich durchsetzte, nach den Motiven der einzelnen Akteur:innen hinter der Annahme des neuen normativen Textes gefragt werden. Hier ergeben sich klare Anknüpfungspunkte zur „Konventionalität“. Beispiele dafür sind Urkunden, die das Verleihen der neuen Regel dokumentieren. Man kann anhand der Aussteller:innen und Empfänger:innen ablesen, welche Gruppen involviert waren (zum Beispiel die Ordensleitung im Gegensatz zum Bischof), und gleichzeitig werfen die in den Texten gemachten Auflagen (zum Beispiel: strenges Kontaktverbot der Schwestern mit den örtlichen Dominikanern) die Frage nach der Freiwilligkeit auf. Zum Teil mögen also nur die handelnden Kleriker im Gegensatz zu betroffenen Terziar:innen die neue Regel attraktiv gefunden haben, und in diesen Fällen kamen nur sie konventionell zu einer Übereinkunft, was mit unregulierten Gruppen zu geschehen habe. Andere Beispiele legen nahe, dass sich Betroffene selbst um eine Regel bemühten, um Strafverfolgung zu entgehen. Man könnte die Regel also in einigen Fällen selbst als Konvention verstehen, die das zugrundeliegende Problem löste, dass Gruppen ohne päpstliche Zulassung in die Illegalität gedrängt wurden, ohne, dass sich praktisch viel für die Betroffenen änderte. Deutlich wird außerdem, dass die Ordensleitung selbst immer wieder Regelungen erließ, die im starken Widerspruch zum Basistext den Drittordensleuten neue Aufgaben zuwiesen, zum Beispiel, als Arbeitskräfte in einem anderen Kloster zu arbeiten. Es steht zu vermuten, dass in diesen Fällen die Normen einer längst etablierten Praxis folgten – und dass soziale Übereinkünfte, dass diese Abweichung in der Praxis nötig oder nützlich sei, also Konventionen, nur noch legalisiert wurden. Den Blick auf solche Übereinkünfte zu lenken, bedeutet, die hinter dem normativen Quellenbestand stehenden sozialen Probleme und ihre konventionell zustande gekommenen Lösungen zu verstehen. In diesem Sinne bietet die Erforschung von Dynamiken der Konventionalität großes Potential für die Ordensgeschichte.
Literatur:
Lehmijoki-Gardner, Maiju, Writing Religious Rules as an Interactive Process. Dominican Penitent Women and the Making of their “Regula”, in: Speculum 79.3, S. 660–687 [zu den vielfältigen Akteur:innen bei der Regelbildung im Orden].
Lewis, David, Convention. A Philosophical Study, 3. Auflage Oxford / Malden 2002, S. 36–42, S. 100–107 [zu Konventionen und Regeln].
Marmor, Andrei, Social Conventions. From Language to Law (Princeton Monographs in Philosophy), Princeton 2009, S. 52 [zu institutionellem Zwang].
Marlene Kleiner: Steinbauchtechniken in Spätantike und Frühmittelalter
Ich arbeite derzeit mit der Definition des Konventionalitätsbegriffs nach Andrei Marmor, wonach sich Konventionalität dadurch auszeichnet, dass (1) in einem bestimmten Personenkreis eine – möglicherweise unausgesprochene – Übereinkunft besteht, sich (2) in einer bestimmten Situation nach einem bestimmten Muster zu verhalten, zu dem es (3) mindestens eine gleichwertige Alternative geben, die Handlung also arbiträr sein muss.[1] Damit diese Definition für mich anwendbar ist, müssen mehrere Ebenen der Konventionalität unterschieden werden, die ich wie folgt festlege: Die Handlungs- oder Verfahrenskonventionalität auf Ebene des Akteurs, die Darstellungskonventionalität auf Objektebene sowie die Rezeptionskonventionalität auf Ebene des zeitgenössischen Betrachters oder der modernen Forschung.
Am Beispiel der Steinbearbeitung, das ich im Response-Workshop vorgestellt habe, lassen sich die Ebenen wie folgt abgrenzen:
- Da die Werkzeuge Zahnfläche und Zahneisen nicht zwingend in der Werksteinproduktion zum Einsatz kommen müssen, sondern Alternativen zu Fläche und Schlageisen darstellen, sind auf der Verfahrensebene nach Marmor alle Voraussetzungen für eine Konventionalität erfüllt.
- Auf der Darstellungsebene ist darüber hinaus die Frage zu stellen, ob die gezahnten Werkzeuge bewusst an Stellen mit hoher Sichtbarkeit, z. B. in der Produktion von Bau-skulptur eingesetzt werden. Hier kann neben vorteilhafter Eigenschaften bestimmter Werkzeuge in der Produktion auch eine unter Umständen beabsichtigte besondere Oberflächenwirkung eine Rolle spielen. Es ist zu fragen, inwieweit sich die Darstellungsebene von der Verfahrensebene trennen lässt und anhand welcher aus dem Befund heraus formulierten Argumente sie unterschieden werden können.
- Auf der Rezeptionsebene kann man sich in Hinblick auf die Rezeption durch den zeitgenössischen Betrachter aufgrund fehlender Schriftquellen nur anhand des erhaltenen Baubestands annähern (welche Darstellungselemente wurden übernommen/abgelehnt?). Die moderne Forschung hingegen ist stark durch Konventionen geprägt, die besonders in der Tendenz zum Ausdruck kommt, etablierte Lehrmeinungen und Forschungsmethoden nicht von Grund auf zu hinterfragen, sondern lediglich Aktualisierungen in Details vorzunehmen.
Im Rahmen meiner Arbeit bietet der Konventionalitätsbegriff Möglichkeiten, Phänomene zu beschreiben und zu benennen, ohne auf problematische Begriffe wie „Stil“ zurückgreifen zu müssen, die sich u. a. aufgrund der Überlieferungslage auf die spätantike/frühmittelalterliche Architektur nur schwer anwenden lassen.
Literatur:
Latour, Bruno. Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1967). Frankfurt a. M. 2010.
Marmor, Andrei. Social conventions. From language to law (Princeton monographs in philosophy). Princeton 2009.
[1] Marmor 2009, S. 1–30.
Benedikt Lemke: Zur Konventionalität des Gottesurteils
Gottesurteile (auch Ordalien) können auf zwei Ebenen als Konventionen beschrieben werden. Aus einer Makroperspektive sind sie mit Andrei Marmor als constitutive convention zu verstehen. In diesem Verständnis werden sie durch ein komplexes System von Handlungsnormen als soziale Rechtspraxis konstituiert, die der gerichtlichen Beurteilung anderweitig unlösbarerer Rechtsfälle diente. Typisch ist die Möglichkeit zur Überschreitung der sozialen Praxis durch ihre politische Instrumentalisierung. So wurden Gottesurteil dem gerichtlichen Kontext entfremdet und zur Legitimierung territorialer oder religiöser Ansprüche angewandt. Aus der Mikroperspektive weisen Gottesurteile als rechtliche Rituale zugleich Merkmale einer coordinative convention nach David Lewis auf. Solche Konventionen sind emergente Lösungen gesellschaftlicher Koordinationsprobleme. Ist eine soziale Praxis begründet, bedarf es der koordinierenden Herstellung von stabilisierten Verhaltenserwartungen für den Vollzug. Koordinative Konventionen regeln demnach innerhalb der etablierten Praxis der Gottesurteile, welcher Handlung oder welchem Ereignis welche Bedeutung für die Beurteilung eines Vergehens zukommt. Daraus ergibt sich das Repertoire der einzelnen Formen des Gottesurteils.
Konventionalität ist für Gottesurteile aber mehr als eine analytische Kategorie. Auch in der Wahrnehmung karolingischer Schriftsteller wird die Konventionalität der Gottesurteile retrospektiv aus der jeweils unterschiedlichen Geschichte einzelner Ordalformen gedeutet, emergiert folglich aus der Historizität rechtlicher Konventionen. Diese diachrone Perspektive offenbart Spannungen zwischen „heidnischen“, christlichen (aber nicht liturgisierten) und christlich-liturgisierten Praktiken und Auffassungen zum Gottesurteil. All diese koexistierten in einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und dynamisierten so die Konventionalität der Gottesurteile. Zahlreiche Spannungen im positiven Recht selbst sowie im Verhältnis dessen zu der liturgisch-rechtsgewohnheitlichen Praxis sind Ausdruck dieser Dynamik. Die dynamischen Spannungen mündeten in einem Diskurs um die Legitimität des Gottesurteils, im Zuge dessen seine Konventionalität zur Schlüsselkategorie avancierte.
Eine weitere Dimension konventioneller Vielschichtigkeit wird in der Kodifizierung liturgischer Formeln zum Gottesurteil sichtbar. Zwischen der Normierung der sozialen Praxis und der Situationsgebundenheit des rituellen Vollzuges situiert, befinden sich diese Texte in einem Spannungsverhältnis zwischen textueller Konstanz und Varianz. Auf diese Weise wird der Konventionsbegriff aus textueller Warte fassbar. Die rechtliche Kodifizierung stellt dagegen auf den ersten Blick ein Problem für den konventionstheoretischen Zugriff dar. Wo jedoch die Verbindlichkeit rechtlicher Verschriftlichung unklar und die Rolle von „Institutionen“ und Sanktionierung mit modernen Konzepten ebenso wenig fassbar ist, wie das Verhältnis von Recht zu Rechtsgewohnheit, bietet sich letztlich nicht nur eine Chance, Konventionalität als solche in neuen Begriffen zu denken, sondern auch vor dem Hintergrund historischer Alterität zu reflektieren.
Literatur (Auswahl):
Bartlett, Robert: Trial by Fire and Water. The Medieval Judicial Ordeal, Oxford 1986.
Dilcher, Gerhard: Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretisches Problem, in: ders. et al. (Hg.): Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 6), Berlin 1992, S. 21-65.
Fried, Johannes: Überlegungen zum Problem von Gesetzgebung und Institutionalisierung im Mittelalter, in: Gert Melville (Hg.): Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde (Norm und Struktur 1), Köln et al. 1992, S. 133-136.
Holzhauer, Heinz: Zum Strafgedanken im frühen Mittelalter, in: Stefan Saar / Andreas Roth (Hg.): Beiträge zur Rechtsgeschichte, Berlin 2000, S. 112-125.
Lewis, David: Konventionen. Eine sprachphilosophische Abhandlung, übers. von Roland Posner und Detlef Wenzel (de Gruyter Studienbuch), Berlin / New York 1975, besonders S. 1-52.
Marmor, Andrei: Social Conventions. From Language to Law (Princeton Monographs in Philosophy), Princeton / Oxford 2009, besonders S. 19-57.
Mordek, Hubert: Karolingische Kapitularien, in: ders. (Hg.): Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 4), Sigmaringen 1986, S. 25-50, hier S. 44-50.
Pilch, Martin: Rechtsgewohnheiten aus rechtshistorischer und rechtstheoretischer Perspektive, in: Rechtsgeschichte 17 (2010), S. 17-39.
Schulze, Reiner: „Gewohnheitsrecht“ und „Rechtsgewohnheiten“ im Mittelalter. Einführung, in: Gerhard Dilcher et al. (Hg.): Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 6), Berlin 1992, S. 9-20.
Adrian Meyer: Konvention und Konventionalität nach der Économie des Conventions zur Arbeit am mittelalterlichen Markt in erzählender Literatur
Im Zentrum meiner Arbeit steht das Erzählen von Handlungen und Praktiken auf dem Markt in mittelhochdeutscher Literatur. Merkantiles Handeln in erzählender Literatur soll dabei nicht als eine noch nicht entwickelte Form eines ökonomischen Rationalisierungsprinzips verstanden werden, sondern als die Summe der narrativ wirksamen Konventionen, Praktiken und Institutionen, die den Markt als Handlungsort formen. Der praxeologische Blick auf die Konventionalität kann somit eine teleologische Wirtschaftsgeschichtsschreibung durchkreuzen und den Markt in seiner handlungslogischen Spezifizität abbilden. Dieser Perspektivwechsel ist notwendig, da mittelhochdeutsche Literatur nicht die Ergebnisse einer aus heutiger Perspektive geschriebenen Wirtschaftsgeschichte reproduzieren kann, sondern aus dem Eigenverständnis der zeitgenössischen Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft heraus verstanden werden muss.
Der Komplex des merkantilen Erzählens, wie er in meiner Arbeit erarbeitet wird, beruht auf einem zweifachen Konventionsbegriff. Beide Begriffe können durch Andrei Marmors Unterscheidung von Tiefen Konventionen und Oberflächenkonventionen innerhalb eines Theoriegebäudes fassbar gemacht werden (Marmor 2009). Marmor beschreibt sowohl Konventionen, die menschlicher Interaktion in ordnender Weise eine Form geben und Kontingenz reduzieren (Oberflächenkonventionen), als auch Konventionen, die solch konventionalem Handeln vorausgehen, indem auf einer tieferen Ebene arbiträre Entscheidungen getroffen werden müssen, welchen sozialen Konstellationen überhaupt eine konkrete Form durch Oberflächenkonventionen gegeben werden müssen. Marmor kommt somit selbst zu einem doppelten Konventionsbegriff, da Konventionen zum einen oberflächlich Handlungsentscheidungen organisieren sowie zum anderen dem vorausgehend bei der Lösung von Entscheidungsentscheidungen mitwirken. Die Übergänge zwischen Tiefen und Oberflächenkonventionen gestalten sich fließend und sollen nicht als aufeinander bezogene Dichotomie gedacht werden.
Dem „tiefen“ Konventionsbegriff Marmors lässt sich das Verständnis von Konventionalität zuordnen, wie es von Vertretern der Économie des conventions (EC) formuliert wird. Im Rahmen der EC stellt Konventionalität das basale Rüstzeug dar, um gegen eine allgemeingültige Rationalitätsannahme im wirtschaftlichen Diskurs vorzugehen. Was einem jeweiligen Rational entspricht, kann nur historisch und gesellschaftlich spezifisch bestimmt werden (die shared mental models, die auch in der EC zur Anwendung kommen (vgl. Tanner 2004, S. 85) treffen sich hier mit Clifford Geertz‘ common sense (Geertz 1975)). Die Verallgemeinerung eines „ökonomischen Prinzips“, die anthropologisierende Gleichsetzung von Nutzenkalkül mit dem Diskurs der Wirtschaft ist daher aus dieser Sicht zu verabschieden, da sich die Parameter des Entscheidens, die Konventionen einer Gesellschaft, grundlegend ändern können (Diaz-Bone 2020). ‚Wirtschaftliche‘ Effizienz muss somit nicht nur etisch identifiziert, sondern auch emisch interpretiert werden. Eine geistes- sowie literaturhistorische Teleologie von der zunehmenden Rationalisierung wirtschaftlichen Handelns kann somit zugunsten situativ zu evaluierender frameworks des Entscheidens verabschiedet werden.
Die zweite Ebene, diejenige der Oberflächenkonventionen, bietet Anschlussmöglichkeiten an Forschungsansätze zum symbolischen Handeln, wonach Orte wie der mittelalterliche Markt nicht nur aus Gründen der Transaktionskostenreduktion (Williamson 1996) mit Konventionen, Institutionen und Praktiken gesättigt sind. Vielmehr entsteht erst durch dieses Bündel an Verhaltensformen und -vorgaben der Markt als Ort geregelter Verfahren, wodurch zugleich ein semantischer Mehrwert produziert wird, dessen literarischem Einsatz nachgegangen werden kann (Neu 2013, Freitag 2013, Teuscher 2013). Dies bedeutet, dass es nicht nur akzidentiell besser ist, auf dem Markt gewisse Konventionen einzuhalten, sondern dass der Markt sich durch ein Zusammenspiel konventioneller Praktiken erst konstituiert und somit zu einem wiedererkennbaren und literarisch einsetzbaren Topos wird.
Der Begriff der Konventionalität ist somit in meiner Arbeit weniger auf der Ebene literarischer Konventionalität zu verorten, als dass er vielmehr den Analysen vorausgeht, damit der Begriff wirtschaftlicher Rationalität historisch dekonstruiert werden kann. Dadurch lässt sich der Markt als Handlungsort von teleologischen Zuschreibungen befreien. Literarisch direkt greifbar ist dabei nur der zweite Teil des doppelten Konventionsbegriffes nach Marmor: die Oberflächenkonventionen des Marktes wie Wiegen, Abzählen, Warenschau und –prüfung oder Feilschen können als konstituierende Handlungsvorgaben in Texten identifiziert und auf ihren semantischen und besonders metaphorischen Mehrwert hin untersucht werden.
Literatur:
Rainer Diaz-Bone: Die „Économie des conventions“. Ein neuer institutionalistischer Ansatz in der Wirtschaftssoziologie. Luzern 2009
(https://www.unilu.ch/fileadmin/fakultaeten/ksf/institute/sozsem/dok/working_papers/WP02-2009-Rainer-Diaz-bone_Die-Economie-Des-Conventions.pdf, zuletzt eingesehen: 17.08.2020, 11:41).
Werner Freitag: Städtischer Markt und symbolische Kommunikation. In: Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation. Hrsg. von Barbara Stollberg-Rilinger, Tim Neu, Christina Brauner. Köln/Weimar/Wien 2013, S. 379-399.
Glifford Geertz: Common Sense as a Cultural System. In: Antioch Review, Bd. 33,1 (1975), S. 5‑26.
Andrei Marmor: Social Conventions. From Language to Law. Princeton 2009.
Tim Neu: Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln. Theoretische Perspektiven. In: Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation. Hrsg. von Barbara Stollberg-Rilinger, Tim Neu, Christina Brauner. Köln/Weimar/Wien 2013, S. 401-418.
Jakob Tanner: Die ökonomische Handlungstheorie vor der ‚kulturalistischen Wende‘? Perspektiven und Probleme einer interdisziplinären Diskussion. In: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Hrsg. von Jakob Vogel, Hartmut Berghoff. Frankfurt am Main/New York 2004, S. 69-98.
Simon Teuscher: Zuerst die Herrschaft und dann der Markt? Kommentar zur Sektion „Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln“. In: Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation. Hrsg. von Barbara Stollberg-Rilinger, Tim Neu, Christina Brauner. Köln/Weimar/Wien 2013, S. 419-425.
Oliver E. Williamson: Transaktionskostenökonomik. 2. Aufl. Hamburg 1996.
Lea Raith: Darstellungen städtischer Vergangenheit zwischen Konstruktion und Konvention (ca. 900–1164)
Meine Dissertation geht der Frage nach, wie im Köln des 10.–12. Jahrhunderts die eigene städtische Vergangenheit imaginiert und dargestellt wurde. Als Quelle dienen mir narrativ ausgestaltete Schriftzeugnisse, die in Köln oder zumindest mit sehr engem Bezug zur Stadt in diesem Zeitraum entstanden sind. Die überwiegende Mehrheit dieser Zeugnisse sind der Hagiographie zuzurechnen, einer Literaturrichtung also, die als stark durch Darstellungskonventionen geprägt gilt. Längst hat sich in der Literaturwissenschaft durchgesetzt, die Hagiographie nicht als eigenes abgeschlossenes Genre mit spezifischen Regeln zu verstehen und stattdessen neben der Vielfalt der Erzählformen (Vita, Passio, Mirakelbericht, Predigt etc.) die Vielfalt der Variationen selbst innerhalb der sich ausprägenden Erzählmuster (Bekenner, Märtyrer, Bischofsheilige etc.) zu betonen. Sie gilt auch nicht mehr als Gegenbegriff zur Historiographie, sondern als spezielle Ausprägung derselben, die den syntagmatischen Wahrheitsanspruch der historia mit dem paradigmatischen Wahrheitsanspruch der Legende verknüpft.[1]
In meiner Arbeit werden die Kölner Legenden zunächst individuell untersucht in Bezug auf die Genese eines bestimmten Erzählschemas (wie etwa in Bezug auf Ursula das der britannischen Königstochter, die auf der Rückreise von Rom bei Köln das Martyrium erlitt und so die Stadt vor den Hunnen rettete). Es geht also um literarische bzw. Darstellungskonventionen bezüglich der städtischen Heiligen und damit verbunden der städtischen Vergangenheit. Letztere äußert sich in konkreten Beschreibungen oder Attributen der Stadt als Bühne der Heiligengeschichte. Die zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert entstandenen Legenden verfestigten sich zu einem bestimmten Kanon, der nicht nur das städtische „kulturelle Gedächtnis“[2], sondern auch das städtische Selbstverständnis für Jahrhunderte prägen sollte. Es ist dabei aber wichtig, zu betonen, dass die Überlieferungssituation nur jene Kölner fassbar macht, die uns Spuren ihres Denkens hinterlassen haben.
Im Vergleich der Einzelergebnisse wird abschließend nicht nur die Genese des städtischen Pantheons in seiner legendarischen Ausgestaltung nachvollzogen. Für den zeitlich und geographisch abgeschlossenen Raum des frühhochmittelalterlichen Köln wird außerdem versucht, die zugrundeliegenden Vorstellungen von städtischer Vergangenheit herauszufiltern, die wiederum weitreichende Implikationen für das zeitgenössische Verständnis von Stadt haben. Diese darunterliegenden Vorstellungen die prinzipiell unreflektiert und zum Teil un(ter)bewusst das Denken und Handeln – es ließe sich ergänzen ‚Schreiben‘ – von Menschen beeinflussen wurden in der älteren Forschung, etwa von Jacques Le Goff und ihm folgend Alfred Haverkamp, unter dem Begriff der „Mentalität“[3] gefasst, ein Begriff, der für meine Arbeit noch immer anschlussfähig ist. Andrei Marmor hingegen prägte den Begriff der „Tiefenkonventionen des Denkens.“[4] Diesen kann sich immer nur angenähert werden im Rückschluss aus den kulturellen Artikulationen einer Gemeinschaft.
Hagiographische Texte werden in meiner Arbeit im Sinne Le Goffs und Haverkamps als mentalitätshistorische Quellen ihres Entstehungszeitraums verstanden, in denen sich nicht nur zeitgenössische Vorstellungen von Stadt finden lassen, sondern auch bestimmte narrative Ausprägungen (Motive, Figuren, Erzählschemata) untrennbar mit der städtischen Vergangenheit und damit einhergehend mit dem städtischen Selbstverständnis verwoben werden. Die Arbeit versteht sich damit einerseits als ein Beitrag zur Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Literatur im Allgemeinen und der Hagiographie im Besonderen. Andererseits soll sie ein Beitrag sein zur Stadtgeschichte in einer Zeit, die zwischen der spätantik-frühmittelalterlichen Bischofsstadt und der Bürgerstadt des hohen und späten Mittelalters liegt und von der Stadtgeschichtsforschung bisher wenig beachtet wurde.
[1] Hammer, Die Heiligenvita zwischen Konvention und Einmaligkeit, bes. S. 222-224, 233-234.
[2] Assmann, Kulturelles Gedächtnis, S. 11-15.
[3] Le Goff, Mentalities, 1977, S. 167-169 beschreibt sie als eine Art historisches „beyond“und hält fest: „The history of mentalities is to the history of ideas as the history of material culture is to economic history.“
Haverkamp, Heilige Städte, 1987, S. 125 mit Anm. 16 bezieht dies auf die Vorstellung von der civitas sancta, die prinzipiell und entgegen dem oft negativ konnotierten Stadtbild des frühen Christentums im mittelalterlichen christlichen Europa nicht hinterfragt wird.
[4] Marmor, Social Conventions, S. 58-78.
Adeline Schwabauer: Habitus im Kontextwechsel
Mit Pierre Bourdieus Konzept des Habitus sollen die potenziell divergenten Nutzungs-, Handhabungs- und Gestaltungskonventionen von Trinkhörnern bei einem Funktionswechsel zu Reliquiaren untersucht werden. Als Konvention werden dabei sich wiederholende Muster verstanden, die sich im Spannungsfeld von Nutzung und Gestaltung zeigen und Rückschlüsse auf die soziale Gruppe, deren Mitglieder und schlussendlich deren Habitus erlauben.
Um Bourdieus Analysekategorie für mein Projekt fruchtbar zu machen, wird das Anwendungsgebiet des sozialen Raumes bei Bordieu gemäß Andreas Reckwitz um die Ebene der Artefakte erweitert, da „eine Subjektanalyse unweigerlich auch eine Objektanalyse umfassen muss, d.h. dass der Umgang mit und die Wirkung von Artefakten für die Bildung und Reproduktion sozialer Praktiken […] zentral ist […]“.[1]
Als Habitus lassen sich Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Handlungsmuster beschreiben, die aktiv handelnde Akteure[2] aus Konvention aber auch interessenbasiert anwenden. Dabei gilt der Habitus als ein „zwar subjektives, aber nicht individuelles System verinnerlichter Strukturen“[3], welches innerhalb derselben Gruppe im Kontext eines bestimmten sozialen Umfelds geprägt und erlernt wird. Dieses angelernte, konventionalisierte Handlungsschema wird als modus operandi auf unterschiedliche Situationen angewandt, reproduziert und je nach Prämissen variiert.[4]
Der Habitus entwickelt sich innerhalb eines konzeptuellen Aktionsraumes, welcher mit dem ambivalenten Begriff des Feldes bezeichnet wird.[5] Im Falle der Trinkhornnutzer lässt sich das Feld etwa durch den Handlungsraum der sozialen Eliten abstecken. Bezogen auf das Artefakt rückt dessen mögliches Einsatzspektrum in den Fokus: Das Horn wird benutzt als Repräsentationsobjekt auf der Kredenz, als Zeichen der Gastfreundschaft beim gesellschaftlichen Trinkgelage, als rituelles Gefäß beim Minne- oder Johannestrunk oder als aussagekräftige Grabbeigabe des Verstorbenen. Die in diesen Kontexten produzierten und verankerten Handlungsmuster haben Auswirkungen auf die Gestaltung der dort verwendeten kulturellen Objekte, welche sich dem jeweiligen Habitus und damit verbundenen Handhabungsbedürfnissen anpassen müssen.[6] Während Trinkhörner zunächst an Mündung und Spitze metallen gefasst wurden, gesellen sich ab dem Spätmittelalter je nach kulturellem Umkreis silbervergoldete Längsbänder und quer verlaufende Manschetten dazu, an denen Füße, Ständer oder Trägerfiguren zum Hinstellen des Gefäßes befestigt wurden. So können die Trinkhörner als unbelebte Dinge Zeugnis ihrer habitualisierten Verwendung werden.
Wird das Trinkhorn schließlich als Reliquiar umgenutzt und mit einer Einbindung in die institutionelle Heiligenverehrung in ein neues Feld gebettet, muss sich der somatisch verankerte Habitus – hier als formale Gestaltung des Objektes zu verstehen – den neuen Bedingungen, Gewohnheiten und Ansprüchen der Umgebung und Akteure anpassen. Obwohl es im Mittelalter keine verschriftlichen Regeln gab, was als Reliquiar gefertigt oder auch verwendet und umgenutzt werden durfte, lassen sich in der Betrachtung der zahlreichen erhaltenen Exemplare formale Gemeinsamkeiten, die auf Gestaltungskonventionen rückschließen lassen, feststellen. So musste auch das Trinkhorn der Vorstellung eines schützenden Gefäßes für die kostbaren Reliquien gerecht werden, indem etwa ein (heute nicht mehr erhaltener) Deckel ergänzt wurde.
Inwieweit bei dieser funktionellen Neujustierung die habituell bestimmten Ausformungen, Bedeutungen und Nutzungen der Trinkhörner transferiert und beibehalten werden, durch einen harten Bruch eine neue Wertezuschreibung erzwingen[7] oder originäre und neue Zuschreibungen in ein synergetisches Verhältnis treten, soll anhand von Einzelstudien in meinem Promotionsprojekt untersucht werden.
Literatur
Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 291), Frankfurt am Main 1972.
Bourdieu, Pierre: Zur Genese der Begriffe Habitus und Feld, in: Bourdieu, Pierre: Der Tote packt den Lebenden (Neuauflage Schriften zu Politik & Kultur 2), Hamburg 2011, 55–73.
Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 658), Frankfurt am Main 221982.
Reckwitz, Andreas: Habitus oder Subjektivierung? Subjektanalyse nach Bourdieu und Foucault, in: Šuber, Daniel; Schäfer, Hilmar; Prinz, Sophia (Hg.): Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaft. Zur Aktualität eines undisziplinierten Denkens (Theorie und Methode 59), Konstanz 2011, 41–61.
[1] Reckwitz 2011, 57.
[2] Vgl. Bourdieu 2011, 58f.
[3] Bourdieu 1972, 187f.
[4] Vgl. Bourdieu 1972, 164f.; Bourdieu 2012, 281.
[5] Vgl. Bourdieu 2012, 164.
[6] Vgl. Reckwitz 2011, 58.
[7] Vgl. Bourdieu 2012, 164.
Tristan Spillmann: Konventionalität und das soziale Feld. Ein Annäherungsversuch
Unter Konventionalität ist die gemeinschaftliche Herausbildung und Inkorporierung von Konventionen gemeint. Konventionen umfassen implizit wie explizit ausgehandelte sprachliche und nicht-sprachliche Praktiken, die innerhalb eines sozialen Feldes von seinen Akteuren über Gewohnheit habitualisiert und als regulative und orientierungsgebende Handlungs- und Wahrnehmungskategorien befolgt werden. Mit dem sozialen Feld (P. Bourdieu) ist ein kompetitiv ausgerichteter, über Relationen der einzelnen Teilnehmer aufrechterhaltener Raum gemeint. Jedes Feld, grundsätzlich von Unterschieden geprägt, weist spezifische Ressourcen (Kapitalien) auf, die sich gegenseitig bedingen, begrenzt zur Verfügung stehen und zur Positionsverbesserung akkumuliert und investiert werden. Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei Konventionen um keine verschriftlichten Regeln handelt, deren Einhaltung von einer instituierten Instanz erzwungen werden kann, erweisen sie sich als dynamische, d.h. als stets vorläufige und permanenten Aushandlungsprozessen unterworfene Normen. Sie können sowohl indirekt über graduelle Modifikationen verändert oder ausgetauscht als auch ausdrücklich in Konflikten zur Disposition gestellt werden. Zusammengefasst in einem Paradigma können Konventionen ferner zur Kontingenzreduktion und zur pragmatischen Simplifizierung unterschiedlicher Abläufe und Schaffensvorgänge fungieren. Simultan dienen sie zur reziproken Rekognition der aktiven Akteure, die sich über die Befolgung der feldspezifischen Regeln diskursiv zu autorisieren versuchen.
Konventionen lassen sich über die Bourdieuschen Begriffe Orthodoxie und Heterodoxie als Leitkategorien des feldspezifischen Diskursrahmens fassen: Orthodoxie meint das anerkannte, von der Mehrheit getragene Meinungs- und Handlungsspektrum eines sozialen Feldes, das über ein Gefüge von unterschiedlichen informellen Vorschriften konfiguriert wird. Heterodoxie meint hingegen jegliche Praktiken und Sichtweisen, die gegen die Majorität gerichtet sind und zur Subversion der Orthodoxie eingesetzt werden. Dies geschieht durch gezielte Brüche von bisher ausgehandelten Normen. Der offen vollzogene, d.h. auf Konfrontation ausgerichtete „Fehltritt“ (P. von Moos), der von den übrigen Feldteilnehmern als solcher erkannt wird, erweist sich entweder als potentielle Gefahr für die Position eines oder mehrerer Akteure oder als Möglichkeit, die eigene Stellung durch Verteidigung der Orthodoxie zu verbessern. Der Streit aktiviert einen Aushandlungs- und Autorisierungsprozess, der zu umfassenden Transaktionen und Neuverteilungen von spezifischen Kapitalien führt. Versachlichte Konventionsbrüche erweisen sich entsprechend als ideale Ereignisse, an denen spezifische Mechanismen des komplexen Feldgefüges aufgezeigt werden können.
Literatur:
Cristina Bicchieri: The Grammar of Society: The Nature and Dynamics of Social Norms, Cambridge 2006.
Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1993.
ders.: Der Tote packt den Lebenden (Schriften zu Politik & Kultur 2), Hamburg 1997.
ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998.
ders.: Was heißt Sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches. Mit einer
Einführung von John B. Thompson, 2. Erweiterte und überarbeitete Auflage, Wien 2005.
Joseph Jurt: Bourdieus Analyse des literarischen Feldes oder der Universalitätsanspruch des sozialwissenschaftlichen Ansatzes, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22, 2 (1997), S. 152–180.
David Lewis: Convention. A Philosophical Study, Cambridge 1969.
Andrei Marmor, Andrei: Deep Conventions, in: Philosophy and Phenomenological Research 74, 3 (2007), S. 586–610.
ders.: Social Convention. From Language to Law, Princeton/Oxford 2009.
Peter von Moos: Fehltritt, Fauxpas und andere Transgressionen im Mittelalter: Einleitung, in: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne, hrsg. von dems. (Norm und Struktur 15), Köln u.a. 2001, S. 1–96.
Markus Schwingel: Kunst, Kultur und Kampf um Anerkennung. Die Literatur- und Kunstsoziologie Pierre Bourdieus in ihrem Verhältnis zur Erkenntnis- und Kultursoziologie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22, 2 (1997), S. 109–151.
Esther von Stosch: Transkulturelle Erzählkonventionalität
Erzählkonventionalität bezeichnet repetitive Muster ästhetischer Dynamiken und Gestaltungsformen des Erzählens und fokussiert damit den Teil literarischer Konventionen, die Udo Friedrich und Christiane Krusenbaum-Verheugen als Konventionen der Literatur (im Unterschied zu Konventionen in der Literatur) definieren. Konventionalisierte literarische Handlungen ermöglichen – ähnlich ihren sozialen Vorbildern – „die Limitierung von Entscheidungsoptionen, die Verringerung verfügbarer Handlungsoptionen und die Ausstattung dieser Optionen mit Erwartungssicherheit und interaktiver Erfolgswahrscheinlichkeit“ (Lieb; Strohschneider, 131). Darüber hinaus können sie Handlungstypen entwerfen, die „nur in der erzählten Welt möglich“ sind (Friedrich; Krusenbaum-Verheugen, 52). Außerdem können jenseits „präreflexiv bleibender oder topisch bekannter Regelhaftigkeiten des Handelns“ weitere Formen ästhetischer Konventionalität auftreten, etwa in Form von „Regelhaftigkeiten der Sprache und des Arguments“ (Friedrich; Krusenbaum-Verheugen, 47f.). Mein Promotionsprojekt möchte den Dynamiken narrativer Konventionen des Hybriden rund um Materialität, Held und Raum in rekurrenten Metaphern, Motiven, Topoi und Erzählmustern nachgehen (Strohschneider und Lieb verstehen diese narrativen Strukturen als „Effekt[e] einer spezifischen Konventionalität“, Lieb; Strohschneider, 117).
Die Herausarbeitung der Erzählkonventionen im Zeichen hybrider Dinglichkeit verbleibt dabei nicht in einem oder mehreren (abgeschlossenen) sozialen und literarischen Horizont(en), sondern Konventionen werden in dieser Arbeit in ihren transkulturellen Verflechtungen aufgearbeitet. Es geht in diesem Sinne also nicht um die einfache Gegenüberstellung verschiedener Texte aus als verschieden begriffenen Kulturen, sondern um die Interferenzen verschiedener narrativer Elemente in ihrer komplexen Beziehung zueinander und unter Beachtung der den Texten jeweils inhärenten mehrdimensionalen kulturellen Ebenen.¹ Homi Bhabhas Hybriditätskonzept bietet methodisch (wie auch inhaltlich) ein zentrales Rüstzeug für solchermaßen transkulturell-komparatistische Zugänge. Er verbildlicht sein Konzept im Palimpsest (vgl. Bhabha, 63), das durch die fortlaufenden Überschreibungen, die komplex ineinanderlaufenden und konfligierenden wie kreativen Verflechtungs- und Aushandlungsprozesse von Identitäten und Kulturen offenbart. Die unterschiedlichen textuellen Verdichtungen von Materialität, Held und Raum sollen so auf die Frage hin untersucht werden, inwieweit sie als hybride Konstruktionen für mittelalterliches Erzählen transkulturell, also in ihren dynamischen und mitunter agonalen Verflechtungsprozessen konzeptualisiert werden können.
Für die Perspektivierung von transkulturellem Erzählen kann konventionalitätstheoretisch insbesondere die von Andrei Marmor für soziale Konventionen postulierte Arbitrarität, also die willkürliche aber nicht beliebige Konkretisierung von Konventionen (vgl. Marmor, 9), fruchtbar gemacht werden: Dabei kann zum Einen mit Marmor Arbitrarität als Wesensmerkmal von Konventionalität herausgestellt werden, zum Anderen ermöglicht die Analyse der arbiträren Dynamiken Rückschlüsse über mögliche zeitlich-räumliche oder sprachliche Spezifika wie Überlappungen des Erzählens, also über transkulturelle Erzählmuster im Zeichen der Bhabha’schen Differenz. Darüber hinaus kann Marmors Herausstellung konstitutiver (im Unterschied zu koordinativen) Konventionen mit ihren kreativen schöpferischen und regulativen definitorischen Möglichkeiten (vgl. Marmor, 36) ebenso wie die der tiefen (im Unterschied zu oberflächlichen) Konventionen mit ihrem normativen Antwortversuch „to basic social and psychological needs“ (Marmor, 58) für die Dekonstruktion mittelalterspezifischer Orientalismen fruchtbar gemacht und eine globale Kontextualisierung und Kontrastierung solcher Projektions- und Imaginationsprozesse in den Konventionen versucht werden. Schließlich sind für die postulierte hybride Dinglichkeit in den Texten sicherlich weitere Herangehensweisen sinnvoll, die nicht nur die sprachliche Ausbildung, sondern auch die erzählten Dinge selbst in den Blick bekommen. Hier kann etwa Michel Foucaults Dispositiv-Begriff hilfreich sein, der (als Gegenpart zum Diskursbegriff) „nicht-diskursive Komplexe von Praktiken“ in den Blick nimmt (Reckwitz, 50) und so Möglichkeiten zur Beleuchtung des Arrangements erzählter Dinge mitsamt ihren hybriden Eigenschaften und ihrer hybridisierenden Wirkmacht auf Figuren, Räume und Handlungen in ihren konventionellen Mustern bietet. Zusammen liefern diese Ansätze erste Schritte zu einer mehrschichtigen Konzeptualisierung transkultureller Erzählkonventionen von (hybrider) Materialität vor dem Hintergrund heterogener, ambivalenter wie mehrdimensionaler Formen mittelalterlichen Denkens und Schreibens.
¹ Die unter dem Terminus ,Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft‘ gefasste Disziplin der literaturwissenschaftlichen Komparatistik hat nicht mehr lediglich die „vergleichende[n] Studien verschiedener Nationalliteraturen“, den einfachen Vergleich von feststehenden Werken in feststehenden Nationen, Kulturen oder Kulturkreisen, im Blick (interkultureller Vergleich), sondern auch „die Untersuchung von Strömungen und literarischen Erscheinungen, die nationale Grenzen überschreiten“ (Corbineau-Hoffmann, 15f.). Im Zuge der vielfältigen Cultural Turns haben sich sowohl die Nationalphilologien als auch komparatistische Ansätze in diesem Sinne weitestgehend von klar umrissenen und abgeschlossenen homogenen Kulturbegriffen gelöst und stellen nun im Sinne der Transkulturalität immer mehr den konstruierten heterogenen, fluiden und dynamisch in ständigem Wandel und in Austauschprozessen begriffenen Charakter von Kulturen ohne feste Grenzen heraus. Für vergleichende Studien bedeutet das die wachsende Fokussierung auf Zwischenräume, Transgressionen, dynamische (Dis)Kontinuitäten, Fluidität und Liminalität. Barbara Mittler (Heidelberger Zentrum für Asienwissenschaften und Transkulturelle Studien CATS) forderte unlängst „einen dialogischen transkulturellen Vergleich“, der sich gegen immer noch weit verbreitete Betrachtungen von Texten „aus singulärer nationaler, oder aus hierarchisierend bipolarer […] Perspektive“ stellt (Mittler, 242). Dazu gehöre etwa auch die diachrone und diatopische Erweiterung der europäisch geprägten Begrifflichkeiten (vgl. Mittler, 244) – wie in der kritischen Reflexion des Leitbegriffs consuetudo im Kontext von Konventionalität für diese Zusammenhänge im Antrag bereits als Aufgabenfeld angedeutet ist. Dabei wehren sich Verfechter:innen transkulturell-komparatistischer Ansätze oftmals gegen den Vorwurf universalisierender oder monokultureller Tendenzen unter Aufruf des Stichworts der Differenz, das insbesondere die Postkoloniale Theorie stark gemacht hat (so etwa Homi Bhabha, der entgegen dem „Utopianism of a mythic memory of a unique collective identity“ die „enunciation of cultural difference“ als Möglichkeit zum Bruch mit binären Teilungen herausstellt (Bhabha, 50f.)); eine solche Differenz scheint zudem bereits im Präfix ,trans‘ (von Transkulturalität) angelegt, das, so Ingrid Kasten, „die Setzung einer Grenze ebenso wie deren Überschreitung“ bereits impliziere; entsprechend gehe es weniger um die Auflösung von Grenzen an sich als darum, ein Verständnis und „einen Raum für die Erkundung von dynamischen Prozessen, Überlagerungen, Verschiebungen und hybriden Strukturen innerhalb einer Kultur wie auch zwischen verschiedenen Kulturen“ zu eröffnen (Kasten, 2).
Inzwischen gibt es auch Ansätze, die versuchen der mittelalterlichen Komplexität (trans)kultureller Verflechtungen gerecht zu werden. Dabei zeichnet sich eine Forschungstendenz ab, die bestrebt ist, binäre Strukturen und „bipolare Modelle“ abzulösen und durch komplexere und fluidere Konzepte zu ersetzen (Mersch, 241). Insbesondere für den kulturell auffällig heterogenen Raum in Andalusien/Al-Andalus gibt es Versuche der bildlichen Darstellung in Form des Palimpsests, Mosaiks oder auch – bezogen auf die unauflösbaren multidimensionalen und multidirektionalen Verflechtungen ohne Zentrum – des Rhizoms (so Margit Mersch in Anlehnung an Guattari und Deleuze, 247-249). Dem Bestreben der Komplexität der Austausch- und Aushandlungsprozesse, ohne vorgefertigte meist westlich geprägte Konzepte und Grenzsetzungen der heutigen Zeit gerecht zu werden, schließen sich auch (Teile der) historischen Komparatistik an. Der Bonner SFB ,Macht und Herrschaft‘ etwa formuliert auf seiner Homepage: „Ziel ist es, den bislang ubiquitären Eurozentrismus in der Auseinandersetzung mit diesen beiden Begriffen [Macht und Herrschaft] zu überwinden oder zumindest zu nivellieren. Dies geschieht, indem die Grenzen, die die im europäischen Wissenschaftsbetrieb entstandenen Fachkulturen gesetzt haben, in Frage gestellt werden und stattdessen ein transkultureller Ansatz zur Beschreibung von Macht und Herrschaft erarbeitet wird.“ Auch das Netzwerk ,Monarchische Herrschaftsformen der Vormoderne in transkultureller Perspektive‘ sucht im zugehörigen Sammelband die „traditionellen Kultur- wie Epochengrenzen und damit die großen Meistererzählungen des Westens durch den konkreten historischen Vergleich in Frage zu stellen“ und verfolgt dazu „transkulturell vergleichende Ansätze“ im Sinne „alternative[r] Zugänge […], mit denen man Herrschaft jenseits der Dichotomien Orient/Okzident und Moderne/Vormoderne untersuchen kann“ (Flüchter, 2).
Literatur:
Konventionalität
Friedrich, Udo; Krusenbaum-Verheugen, Christiane: Konventionalität und die Literatur der Vormoderne. Zur Einführung, in: Friedrich, Udo; Krusenbaum-Verheugen, Christiane; Schausten, Monika (Hg.): Dynamiken der Konventionalität in literaturwissenschaftlicher Perspektive, Berlin 2021 (Beiheft zur Zeitschrift für deutsche Philologie), im Druck, S. 1-55.
Lieb, Ludger; Strohschneider, Peter: Zur Konventionalität der Minnerede. Eine Skizze am Beispiel von des Elenden Knaben ,Minnegericht‘, in: Lutz, Eckart Conrad; Thali, Johanna; Wetzel, René (Hg.): Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Burgdorfer Colloquium 2001, Tübingen 2005, S. 109-138.
Marmor, Andrei: Social conventions: from language to law, Princeton, N.J 2009.
Reckwitz, Andreas: Habitus oder Subjektivierung? Subjektanalyse nach Bourdieu und Foucault, in: Šuber, Daniel, Hilmar Schäfer und Sophia Prinz (Hrsg.): Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaften: zur Aktualität eines undisziplinierten Denkens, Konstanz 2011, S. 41–59.
Transkultureller Vergleich
Bhabha, Homi K.: The Location of Culture, New York 2004.
Corbineau-Hoffmann, Angelika: Einführung in die Komparatistik, Berlin, 2013.
Flüchter, Antje: Einleitung: Der transkulturelle Vergleich zwischen Komparatistik und Transkulturalität, in: Drews, Wolfram [u.a.] (Hg.): Monarchische Herrschaftsformen der Vormoderne in transkultureller Perspektive, Berlin, Boston 2015, S. 1-32.
Kasten, Ingrid: Einleitung, in: Dies./Auteri, Laura (Hg.): Transkulturalität und Translation. Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext, Berlin/Boston 2017, S. 1-17.
Mersch, Margit: Transkulturalität, Verflechtung, Hybridisierung – ,neue‘ episte-mologische Modelle in der Mittelalterforschung, in: Baumgärtner, In-grid/Conermann, Stephan/Honegger, Thomas (Hg.): Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Berlin, Boston 2016, S. 239–251.
Mittler, Barbara: Vokabularien für eine globale Bibliothek – Von Transfer, Transformation und Transkulturalität, in: Bibliothek – Forschung und Praxis Bd. 45 Nr. 2 (2021), S. 239-248.
Sonderforschungsbereich 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“ der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn, Forschungsprogramm online unter: https://www.sfb1167.uni-bonn.de/ueber-uns/forschungsprogramm (Abruf 30.7.2021).