Trauma- und Bewältigungsnarrative in der Literatur des deutschsprachigen Mittelalters
In den letzten Jahren gibt es Bestrebungen, die immer stärker wachsenden Trauma Studies auf die Vormoderne auszuweiten und für die Analyse mittelalterlicher Textzeugnisse produktiv zu machen. Es handelt sich hierbei um eine heterogene Forschungsrichtung, die seit den 1990ern, aufbauend auf dem pathologischen Modell der Psychoanalyse und Psychologie, Trauma als kulturelle und literaturwissenschaftliche Kategorie zu fassen versucht. Mit meinem Promotionsprojekt möchte ich diesen Ansatz weiterentwickeln, wobei es nicht das Ziel ist, eine Erkrankung oder psychische Störung in der Vormoderne nachzuweisen, sondern Trauma als ein literarisches, narratives Konzept zu untersuchen.
Hierbei soll nicht nur die Traumatisierung in den Blick genommen werden, sondern auch der Versuch der Bewältigung. Die Analyse solcher Trauma- und Bewältigungserzählungen soll aufzeigen, mit welchen narratologischen Verfahren eine beeinträchtigende, langanhaltende Gewalterfahrung und deren Lösung dargestellt und diskursiviert wird. Ausgehend von den aktuellen Forschungsbeiträgen lässt sich bereits festhalten, dass solche Erzählungen insgesamt für Strategien der Spannungserzeugung, Sympathie- und Rezipientenlenkung sowie Handlungsmotivierung dienen.
Ein Ziel des Projekts ist es ferner, das Konzept von Trauma- und Bewältigungsnarrativen mit Konventionalitätstheorie zu synthetisieren: Das Trauma führt zur sozialen Isolation und zum Funktionsverlust einer Figur, sodass diese hiernach laut Figuren- und Erzählerkommentaren ungewöhnlich, teils kritisch oder sogar unverständlich agiert. Dabei stellen Traumanarrative das Anti-Konventionelle des Figurenverhaltens bei Gewalterfahrungen dar, denn „eine Konvention tritt besonders dort hervor, wo sie durchkreuzt wird“ (Schwarzbach-Dobson, Michael: Konventionen und Narration. coutume und Aventiure im Artusroman, in: Udo Friedrich/Christiane Krusenbaum-Verheugen/Monika Schausten [Hg.]: Kunst und Konventionalität. Dynamiken sozialen Wissens und Handelns in der Literatur des Mittealters, Berlin 2021 [Beihefte zur ZfdPh 20], S. 75). Die Überführung der Figur von der Traumatisierung hin zur Bewältigung stellt gleichsam eine Rückkehr zum konventionellen Verhalten dar, wobei Bewältigungsmittel wie Rache ebenfalls schon Konventionen unterliegen. Für dieses Erzählschema besonders prägnant sind Wiederholungsstrukturen, anhand derer konventionelles Verhalten (wieder)hergestellt wird. Zudem muss auch erschlossen werden, ob es sich bei Trauma- und Bewältigungserzählungen um ‚Erzählkonventionen der und in der Literatur‘ handelt.