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Alisa Hajdarpašić: Die Dynamik des Verhältnisses von Regel und Fall im frühneuzeitlichen Prosaroman

Peter Paul Rubens: A Forest at Dawn with a Deer Hunt (The Metropolitan Museum of Art) common license

Im Rahmen des frühneuzeitlichen Prosaromans (Fortunatus, Romane Jörg Wickrams) untersucht die Arbeit die Argumentations- und Kohärenzbildungsverfahren des Exemplarischen als einer Erzähl- und Wissensform, über die das soziale Handlungswissen Eingang in die Literatur findet. Als Erzählform lässt sich das Exemplum auf das argumentative Paradeigma der griechischen Rhetorik zurückführen, aus dessen Tradition sich sowohl seine Begründungs- und Erklärungsprinzipien als auch seine Erzählfunktionen herleiten. Zu argumentativen Grundlagen exemplarischer Geschichten, die für die Fragestellung der Arbeit vom besonderen Interesse sind, zählen Handlungsmuster, Präferenzen und Erwartungen sowie Schemata von Wertzuordnung, d. h. Muster der Urteilsbildung über Menschen und Ereignisse, die kollektive Akzeptanz genießen und sich deswegen dazu eignen, vorgeführte Zusammenhänge zu plausibilisieren.

Entsprechende Annahmen über die Wirklichkeit gehören den Beständen des topischen Handlungswissens, dem Common Sense an, dessen Funktion soziologisch betrachtet in der Komplexitätsreduktion im Rahmen von kontingenten Handlungssituationen liegt. Die topischen Handlungsmaximen können jedoch nicht in eine systematische Theorie des Handelns übersetzt werden: Sie beinhalten auch gegenläufige, untereinander nicht-hierarchisierbare Aussagen über die Welt, denn es handelt sich um keine allgemeingültigen Regeln, sondern um Wahrscheinlichkeitsannahmen. Aufgrund ihrer Vielzahl eröffnen die Schemata des Common Sense dem Erzählen vielfältige Optionen des Anschlusses an Alltagswissen. Mit der Besonderheit des topischen Orientierungswissens verknüpft sind auch die Problemfelder, denen sich das Projekt im Hinblick auf das exemplarische Erzählen und das ihm inhärente Reflexionspotenzial widmet.

Im 16. Jahrhundert gewinnen in einer Reihe zeitgenössischer Diskurse einerseits die Rolle der Topik und andererseits die Kontingenzthematik sowie die Wahrscheinlichkeit als Orientierungskategorie zunehmend an Bedeutung. Als Quellentexte für die Erörterung der hier knapp skizzierten Problematik wurden deswegen Prosaromane des 16. Jahrhunderts ausgewählt. Die Fragestellung widmet sich dem Exemplum als Erzählfunktion unter argumentationstheoretischem Gesichtspunkt und dem der narrativen Inszenierung im Hinblick auf die Fülle der zum Ausdruck kommenden Perspektiven und im Rahmen der unterschiedlichen kommunikativen Kontexte. Hinsichtlich der Einbettung exemplarischer Sequenzen in übergreifende Syntagmen der großen Erzählform geht das Projekt des Weiteren der Frage nach, wie sich die Kontingenz und Komplexität der sozialen Verhältnisse zur narrativen Entfaltung der Texte verhalten und wie die Figuren mit der sich artikulierenden Vielheit an Handlungs- und Interpretationsalternativen situativ und auf den Lebenszusammenhang bezogen umgehen.

Kontakt: alisa.hajdarpasic[at]hotmail.com