Benedikt Lemke: Zeugen von Glauben und Recht - Die Gottesurteile und ihre Liturgisierung in der Karolingerzeit
Wenn im Mittelalter gerichtliche Streitfälle nach menschlichem Ermessen unentscheidbar waren, konnte das Gottesurteil (auch Ordal genannt) angewandt werden. Bei diesem Verfahren, von dem es unterschiedliche Formen gab (z.B. den Kesselfang oder den Pflugscharengang), wurde Gottes Eingreifen zur Offenbarung von Schuld oder Unschuld erbeten. Die beistehende Illumination zeigt beispielsweise die Handeisenprobe: Dabei musste der Beschuldigte ein glühendes Eisen einige Meter weit tragen. Nur wenn seine Hand drei Tage darauf noch unverletzt war, hatte Gott seine Unschuld erwiesen.
„Heidnische“ Gottesurteile begegnen bereits in den Stammesrechten seit dem frühen 6. Jahrhundert, doch erst in der karolingischen Zeit (ab 751) wurde ihre allmähliche Verchristlichung mit Nachdruck vorangetrieben. Genuin christliche Formen wie die Kreuzprobe entstanden und ab den 790er Jahren wurden Gottesurteile im Zuge der karolingischen Reformen mit liturgischen Formeln versehen. Diese Liturgisierung, die auch eine Reihe neuer Ordalformen hervorbrachte (z.B. das Maßordal), war grundlegend für den unvergleichlichen Erfolg dieses Rechtsinstitutes im Mittelalter: Bis zum Verbot durch das vierte Lateranum (1215) ist seine Anwendung durch zahllose Quellen belegt und liturgische Formulare für das Gottesurteil zählen mit über 200 Textzeugen zu den am häufigsten überlieferten Texten des Mittelalters überhaupt.
Kann die karolingische Epoche mithin als Schlüsselphase für die Geschichte des Gottesurteils gelten, überrascht es, dass dieser Zeit in der Ordalforschung bislang wenig Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist (nur knapp behandelt etwa in den einschlägigen Monographien Hermann Nottarps, Robert Bartletts und Peter Dinzelbachers). Zugleich sind die liturgischen Formeln nur äußerst unvollständig in den bisherigen Editionen erfasst (hauptsächlich bei Karl Zeumer, Felix Liebermann und Adolph Franz) und bislang noch niemals systematisch auf ihre Überlieferungskontexte hin untersucht worden.
Dieser Desiderate wird sich mein Dissertationsprojekt aus konventionstheoretischer Perspektive annehmen. Zunächst wird der Prozess der Liturgisierung in seinen Anfängen mit einer Edition aller liturgischer Formeln von 790 bis 900 und einer Erschließung ihrer Überlieferungskontexte (25 Handschriften) sichtbar gemacht. Mithilfe neuer Editionsmethodik in der Tradition der New Philology soll dabei die Spannung zwischen textueller Beständig- und Veränderlichkeit bei dem Prozess der Kodifizierung sichtbar gemacht werden, die in Verhältnis zum (Überlieferungs-)Kontext des rituellen Vollzuges zu setzen ist. Bereits darin erweist sich die Konventionalität liturgischer Ordalpraxis als dynamisch. Darauf aufbauend wird die Stellung des Gottesurteils als habitualisierte Handlungspraxis im karolingischen Rechtswesen erschlossen. Für Ordale als „Zeugen von Glauben und Recht“ ist insbesondere das Verhältnis zwischen rechtlicher (lex) und gewohnheitsrechtlicher (consuetudo) Praxis zu ergründen. Während der Kesselfang rechtlich vorgeschrieben und vielfach (liturgische) Anwendung fand, untersagte etwa ein Kapitular 829 die Anwendung der liturgischen Kaltwasserprobe. In einem nächsten Schritt wird der Diskurs um die Legitimität von Gottesurteilen im 9. Jahrhundert ins Auge gefasst. Die wortreichen Stellungnahmen von Kritikern wie Agobard von Lyon (817-822) und Befürwortern wie Hinkmar von Reims (860) geben die Konventionalität der Rechtspraxis als Kernkategorie dieser Debatte zu erkennen. Die Konventionalität wiederum emergiert für die verschiedenen Ordalformen als komplexes Gefüge dreier Dimensionen der Geschichtlichkeit des zunächst „heidnischen“, dann christlichen und schließlich liturgisierten Gottesurteils. Schließlich wird der Fokus auf die mentalitätsgeschichtlichen Hintergründe ausgeweitet: Der (nicht umstrittene) Glaube an die immanente Gerechtigkeit der Welt wird als Fundament für das Ausgreifen des Gottesurteils auf außergerichtliche Kontexte zu profilieren versucht. In der Anwendung extremer oder außergewöhnlicher Ordalformen zeigt sich eine gewisse Paradoxie der Konventionalität des Ordals: Offenbar konnte die Befolgung von Normen auch zur Triebfeder der Abweichung werden.