Der eheliche Konsens in den vorgratianischen Kanonessammlungen (ca. 1000 – ca. 1140)
Das Dissertationsvorhaben widmet sich einem Kernthema des vormodernen Eheschließungsritus und behandelt den Konsensaustausch in seiner initiierenden Funktion des Eheeintritts. In einem engführenderen Schritt soll dabei der Fokus auf der Frage liegen, welche Akteure an der ehelichen Konsensfindung beteiligt sind. Während sich in der Forschung die Vorstellung verstetigt hat, welche von einer linearen Entwicklung einer „Ehelehre“ seit dem 12. Jahrhundert von einem Gruppenkonsens unter Beteiligung der Verwandten hin zu einem Individualkonsens, welcher nur noch die Ehepartner selbst einschließt, ausgeht, so erscheint dieses Stufenmodell doch zu statisch und fortschrittsgläubig.
Wenngleich außer Zweifel steht, dass ab Mitte des 12. Jahrhunderts, im Decretum Gratiani (1140/50) wie in den Sentenzen des Petrus Lombardus, der individuelle Konsens der Ehepartner zu einer conditio sine qua non avancierte, so ist die Genese der terminologisch-semantischen Bestimmung des ehelichen consensus im hochmittelalterlichen Kirchenrecht bisher nur unzureichend erforscht. Besonders die Kanonessammlungen vor Gratian fanden, bedingt durch die begrenzten Möglichkeiten einer systematischen Durchsuchung, bisher kaum Berücksichtigung. Als meist systematische Ansammlungen von Auszügen aus Bibelkommentaren, patristischen Schriften, Konzilsbeschlüssen, Papstbriefen, Kapitularien, Bußsummen und Exzerpten antiken römischen Rechts bieten sie aber einen geeigneten Startpunkt, um die Herausbildungen von Normen nicht bloß als ein Aufeinanderschichten von in sich inhärent stabilen Entitäten, sondern als vitale, ambivalente Auswahl- und Zusammensetzungsprozesse aus einer enormen Vielfalt an lehrsatzähnlichen Materialien zu problematisieren.
Für eine diskursgegenständliche Historisierung des Ehekonsens in den Kanonessammlungen ist daher eine grundsätzliche Instabilität zu vermuten, welche neben der Frage, unter welchen Bedingungen sich welche Definitionen von Konsens als Aussageformationen herausbilden, auch die Problematik berührt, inwieweit diese Formationen die kanonistischen und theologischen Diskurse des 12. Jahrhunderts strukturierten und die rasche Institutionalisierung der Vorstellung eines ehelichen Individualkonsens ermöglichten.
Für die Untersuchung soll dabei das Konzept der „sekundären Normbildung“ (Andreas Thier) für einen konstruktivistisch-diskursanalytischen Ansatz fruchtbar gemacht werden. Im Kern wird dabei nach Anordnungs- und Organisationsprozessen von kanonischen Lehrsätzen hin zu regelmäßigen Aussageformationen gefragt. Davon ausgehend sollen anhand von Wechselwirkungen zwischen Inhalt und Kontext, Aussagengehalt und Textgestalt Rückschlüsse auf Sinnstiftungspotentiale gezogen werden. Das Konzept der Konventionalität kann dabei in besonderer Weise helfen zu erhellen, wie diese Semantiken durch Praktiken des Anordnens, Verknüpfens, Kategorisierens/Rubrizierens, des (Re-)Formulierens und (Re-) Strukturierens in Kanonessammlungen hervorgebracht, modifiziert oder verworfen werden können. Entgegen einer stufenartigen Entwicklung einer „Ehelehre“ soll die Arbeit somit einen Beitrag dazu leisten, anhand des ehelichen Konsenses zu zeigen, dass (ehe-)rechtliche Normsetzungen zwar von einem Koordinierungsbestreben getragen, ebenso aber durch soziale Bedürfnisse geformt wurden – und somit in einer zeitspezifischen Hermeneutik erfasst und interpretiert werden müssen.